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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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warm an, es vibrierte in ihnen. Ich konnte ihre Atemzüge in der völligen Stille hören, während sich der weiche, orangerosige Schein im Raum verbreitete und jeden Winkel mit diesem sanften Licht erfüllte, das sehr schwer zu beschreiben ist. Ich spürte, wie eine Art Knistern und ein lindes Gefühl durch meinen Leib rannen. Ich wußte nichts mehr von mir, abgesehen von einer ziehenden, zerrenden Empfindung, die aber schon bald aufhörte, während das Zimmer wieder sein altes, gewöhnliches, dämmriges und sonnenfleckiges Aussehen annahm. Als wir aufstanden, blickte ich Sarah in die weit aufgerissenen Augen, die starr auf meinen Kopf und meine Schultern gerichtet waren. Ehe ich ihr Einhalt gebieten konnte, hatte sie schon impulsiv nach dem Saum meines Kleides gegriffen und ihn an den Mund geführt, so als ob sie ihn küssen wollte.
    »Nein, nein, das schickt sich nicht!« protestierte ich und entriß ihr das Kleid. Dann nahm Mutter Hilde ihre Hände und sah nach, was sich getan hatte. Neugierig untersuchten wir die Warzen, und es schien uns, sie sahen schon trockener und gelblichbrauner aus. Sarah schnipste mit dem Zeigefinger an der größten Warze. Sie ließ sich leicht abziehen, und darunter erschien eine kreisrunde Stelle mit neuer, rosiger Haut. Mit einem wortlosen Lächeln, das der ganzen, weiten Welt zu gelten schien, schnipste sie an der nächsten, dann an noch einer. Nachdem sie ihre Hände gesäubert hatte, befühlte sie ein Warzenpaar auf ihrem Gesicht, und mit dem gleichen Erfolg.
    »Der Rest«, sagte sie neckisch, »hat Zeit bis später.« Wir lächelten, und sie ebenso.
    »Sag mal«, meinte sie, »ist das Zauberei oder ein Trick? Mir ist, als hätte ich für einen kurzen Augenblick Licht um deinen Kopf und deine Schultern spielen sehen.«
    »Ich weiß nicht, wie sich das für andere ausnimmt, aber ich sehe es als Licht im Zimmer. Wie das kommt, weiß ich auch nicht«, antwortete ich, »ich glaube aber, es ist eine Art Gottesgabe. Eines Tages kam es so über mich, aber verstehen kann ich es nicht. Es geht durch mich hindurch, und manchmal heilen sich die Menschen dann selbst. Manchmal geht es ein Weilchen weg und kommt dann wieder. Von Zeit zu Zeit sehe ich rings um einen Menschen so etwas wie eine Wolke und kann in der Wolke sein Schicksal erfühlen. Mir wäre es lieber, jemand könnte mir erklären, was es damit auf sich hat. Aber das kann keiner. Ich muß Euch bitten, mich nicht zu verraten, da es bei Euch ja gewirkt hat.«
    »Vorsicht ist für junge Mädchen besser als Nachsicht«, antwortete sie. »Ich hab mal jemand mit einer Gabe ähnlich wie deine, nur anders, gekannt. Sie hat kein gutes Ende genommen. Die Leute haben Angst vor dergleichen. Du könntest auf dem Scheiterhaufen enden.« Entgeistert blickte ich sie an. In diesem Licht hatte ich es noch nicht gesehen. Ich hatte immer nur gedacht, ich müßte mich schämen, wenn es nicht klappte, falls ich es einmal vorführen wollte. Und dann war ich danach auch immer so ausgelaugt und erschöpft. Wer weiß? Kann sein, mir saugte eines Tages jemand durch die Öffnung in meiner Seele, welche die Gabe machte, das Leben aus. Ich glaube nicht, daß ich zur Heiligen geschaffen bin. Ich bin zu selbstsüchtig, und ich bin auch nicht immer gut gewesen.
    Nach zwei Wochen sah es so aus, als ob das Kind doch noch zum errechneten Zeitpunkt geboren werden sollte, und so schickten wir uns an, für die Nachtwachen in die Wochenstube umzuziehen. Mutter Hilde war eine Meisterin in der Kunst der eindruckerweckenden, körperlichen Betriebsamkeit, denn die schätzt man an einer Wehmutter. Während ein Priester Lady Blanche vorlas, um ihre Stimmung zu heben und ihr und ihren Damen die Wartezeit angenehm zu vertreiben, lief Hilde im Zimmer umher, legte Leinwand, Tupfer und heilende Öle zurecht und rückte auch den Badezuber und anderes Gerät ans Feuer, an einen Platz, der ihr am angebrachtesten erschien. Der Astrologe kam und stattete Bericht ab über seine neuste Befragung der Sterne, was die Aussichten des Kindes anging. Als uns alles richtig erschien, schlüpften wir aus dem geschäftigen Raum, um frische Luft zu schöpfen und unsere Pläne allein durchzusprechen.
    Zusammen gingen wir durch die große Halle. Da das Wetter zum Braten draußen vor dem Haus zu schlecht war, drehten sich mehrere Reihen Geflügel an Bratspießen über der Feuerstelle in der Mitte. Der fettige Rauch wölkte zu den Dachsparren hoch, wo traulich vereint Schinken, Wildbret und andere Tiere

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