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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Kendall hatte einen Blick zur Tür geworfen, als der kleine Lehrjunge ihn am Ärmel zupfte und Bruder Gregorys Botschaft wiederholte. Freundlich, doch etwas kurzangebunden hatte er geantwortet: »Ja, natürlich«, und in Bruder Gregorys Richtung genickt. Jetzt endlich würde Bruder Gregory sich richtig mit Kendall unterhalten und herausfinden können, ob an seinem Ruf etwas dran war.
    »Ich nehme Eure Einladung mit großem Vergnügen an, Madame, denn ich weiß, Ihr meint es wohl damit.« Bruder Gregory verneigte sich leicht. Gelegentlich ließ auch er Höflichkeit erkennen, obwohl sich die bei ihm oftmals in einen gewissen Sarkasmus kleidete. Jetzt hielt er inne und überlegte.
    »Ich schlage vor, wir schließen einen Waffenstillstand in unserem Disput, da ich ohnedies auf einen unwiderlegbaren Beweis gestoßen bin und es sich nicht schickt, Euch erst gänzlich zu schlagen und danach Eure gastliche Einladung anzunehmen.« Bruder Gregory war ein sehr störrischer Mensch, vor allem wenn es um die Frage von Blut und der richtigen Ordnung des Universums ging, und er hatte eine ganz vernichtende Widerlegung im Sinn. Just war ihm nämlich eingefallen, wo er diese seltsamen, goldfarbenen Augen schon einmal gesehen hatte.
    »Sehr gut, Bruder Gregory«, lächelte Margaret. »Aber jetzt zum Abendessen; auf schlagende Beweise läßt man sich am besten mit vollem Magen ein.«
    Doch Bruder Gregory war heillos entsetzt, als Margaret die Kinderfrau rief, daß sie die Kinder fürs Abendessen fertigmachte. Er riß die Augen auf.
    »Eure Töchter, Dame Margaret, werden doch gewißlich getrennt abgefüttert?«
    »Bei großen Anlässen ja, aber das hier ist ein Abendessen in der Familie. Überrascht es Euch, daß sie am Haupttisch sitzen? Das ist hier im Haus so Sitte.«
    »Und in Bauernhäusern«, dachte Bruder Gregory verdrießlich bei sich. »Bälger wie die da bereiten Menschen mit einem verfeinerten Verdauungssystem Magenschmerzen.« Laut ging es ihm honigsüß von den Lippen: »Dame Margaret, Ihr seid exzentrisch.«
    »Nicht exzentrisch, Bruder Gregory; ich habe meine Gründe.« Margaret sah nachdenklich aus. »Mein Mann ist nicht jung, und so ist es wichtig für meine Töchter, daß sie soviel Gewinn wie möglich aus seinem feinsinnigen Geist und seiner klugen Unterhaltung ziehen. Er redet fast täglich mit hochgestellten Persönlichkeiten und hat große Erfahrungen an fernen Orten gesammelt. Jedes Wort von ihm kann für Cecily und Alison nur von Nutzen sein, selbst in diesem zarten Alter.«
    »Oha«, dachte Bruder Gregory, »ich kann mir vorstellen, daß du selber diesen ganzen Klatsch und Tratsch gern hörst. Wer hätte das gedacht? Eine Januar-April-Ehe aus echter Zuneigung. Vielleicht hat sie ja doch keine Liebhaber.«
    »Ihr seht trübsinnig aus, Bruder Gregory. Kommt, kommt! Vergeßt Eure Sorgen für einen Abend und erzählt uns eine gute Geschichte!« wandte sich Roger Kendall in seinem gewohnten, jovialen Ton an Bruder Gregory. Man erzählte sich, daß der große Handelsherr einst jahrelang am Hofe des berüchtigten Sultans Orkhan gelebt hatte. Und ein Mann, der sich bei einem Ungläubigen angenehm machen kann und gar noch mit ihm Handel treibt, der kommt mit jedem auf der Welt zurecht. Ob an dem Gerücht etwas Wahres war oder nicht, Kendall jedenfalls hatte gelernt, daß man mit einem sauertöpfischen Gesicht nichts verkauft, und so hatte er sich zusätzlich zu seiner angeborenen Gutmütigkeit noch eine Art berufliche gute Laune zugelegt.
    Bruder Gregory seinerseits hatte sich an diesem Abend schon über mehrere Dinge geärgert. Zunächst einmal war das Abendessen zwar gut zubereitet, doch sehr einfach. Am Kopfende des Tisches, wo er mit Kendall saß, gab es nur zwei Fleischgänge, die für den hohlen Zahn waren. Er merkte, daß unten am Tisch herzhafter zugelangt wurde. Nichts gegen Fasten, doch wenn man sich auf ein gutes Essen gefreut hat, dann ist es sehr enttäuschend, wenn nur ein magerer Bissen auf den Tisch kommt. Ja, er mußte doch tatsächlich zweimal, dreimal zulangen und wirkte dadurch natürlich verfressen, gerade wo ihm soviel daran lag, bei der ersten richtigen Begegnung mit Roger Kendall seine Heiligkeit zur Schau zu stellen. Wie ärgerlich, daß Kendall die Tranchierplatte noch einmal auffüllen ließ und ihm noch mehr Wein aufnötigte, und das alles mit dieser jovialen Stimme! Das Ganze erinnerte Bruder Gregory nur daran, daß er übertrieben freundliche Leute ganz und gar nicht mochte. Er hielt sie

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