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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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euch nicht verstecken könnt, wenn sie euch jagen.« Ich wußte, daß ich träumte, daher war ich nicht besonders erschrocken. Und dann ging dieser Mann hin und zersägte meine Haustür, naja, eigentlich die Tür der Schule, in der ich jetzt wohne. Und ich fragte ihn: »Warum zersägst du meine Haustür, Kamerad?« Und er antwortete: »Damit die, die dich jagen, weniger Arbeit haben.« Da erwachte ich. Ich schlug die Augen auf und blieb still liegen, als ob ich noch schliefe, so, wie ich es hier gelernt habe. Jemand sägte an der Schultür. Ich erschrak, denn ich bin keineswegs mutig, meine Tochter. Ich zögerte lange, dann schlich ich zur Tür und bemerkte, daß da niemand sägte: Jemand kratzte an der Tür. Und da erinnerte ich mich … Ist Dir das jemals passiert, meine Tochter, daß Dir Dinge, die lange zurückliegen und die Du vergessen hattest, plötzlich wieder so klar und deutlich vor Augen stehen, als wäre nicht ein einziger Tag vergangen? Nun, genau das geschah mir in diesem Moment. Ich öffnete schnell und leise die Tür – und was glaubst du, was ich fand?
    Tina betrachtete die Zeichnung des Hundes mit dem langen Fell, der hängenden Zunge, dem aufmerksamen Blick und dem zur Seite geneigten Kopf, als hätte er ein Geräusch gehört. Fontelles war wirklich ein guter Zeichner. Kenne ich jemanden, der einen Scanner hat?
    Ein halbes Jahr war vergangen, meine Tochter, ein ganzes halbes Jahr, seit Aquil·les zehn Tage hier in der Schule versteckt gewesen war und seine Kinder bewacht hatte, ohne einen Laut von sich zu geben … Und nun war er zurück, still, schmutzig, das Fell verfilzt und die Füße wund vom rastlosen Laufen. Er war klapperdürr. Er leckte mir die Hände und kam herein, als wäre er hier zu Hause, schnüffelte in allen Ecken und setzte sich dann winselnd vor die Tür, die zum Dachboden führt.
    »Hast du sie verloren? Wo sind sie?«
    Wieder leckte er mir die Hände, rieb sich an meinen Hosenbeinen wie eine Katze, und da fiel mir ein, daß er völlig ausgehungert sein mußte, und ich gab ihm das Stück Wurstbrot, das eigentlich mein Frühstück gewesen wäre. Noch nie habe ich jemanden so hastig das Essen hinunterschlingen sehen, meine Tochter. Dann legte sich das arme Tier in eine Ecke und schlief ein.Wahrscheinlich war es das erste Mal auf seiner monatelangen Wanderschaft, daß er an einem sicheren Ort schlief.
    Später erzählte mir Leutnant Marcó – ich hoffe, Du wirst ihn einmal kennenlernen, wenn er sich wieder Joan Esplandiu von den Venturas nennen darf –, daß die Familie aus Lyon bis in Sichtweite der portugiesischen Grenze gelangt war: In Alameda de Gardón, kurz vor Beira Alta, wurde der Wagen mit der Familie und einem Grenzgänger, der zur Partei gehörte, gestoppt, weil jemand dem Grenzgänger Böses wollte. Mein Kind, tu, was Du kannst in Deinem Leben, aber werde niemals zum Verräter. Deine Mutter wird dir schon erklären, was ich damit meine. Ich denke an die erschrockenen Augen von Yves und Fabrice, als sie erkannten, daß der Unhold aus dem Märchen sie gefangen hatte und gleich fressen würde. Leutnant Marcó erzählte mir, die Familie, deren Namen ich nie erfahren habe, sei in den besetzten Teil Frankreichs gebracht worden, wo sie in einen Zug verfrachtet wurde, der Juden nach Deutschland brachte, in ein Arbeitslager namens Dachau, aus dem, wie man behauptet, niemand lebendherauskommt, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann. Die armen Kinder: Kurz bevor sie den sicheren Hafen erreichten, hat die Pranke des Unholds sie gepackt. Meine armen Kinder. Und das heißt, daß Aquil·les von jenseits von Salamanca bis in diesen Winkel der Pyrenäen zurückgekehrt ist, an den Ort, an dem sie auf ihrer langen Odyssee vielleicht die einzigen ruhigen Tage verlebt hatten.
    »Wo kommt dieser Hund her?»
    »Er ist herrenlos. Ich habe ihn aufgenommen.«
    »Er ist hübsch.«
    »Ja.«
    »Ein Rassehund.«
    »Glaubst du?«
    »Ja, es ist ein Spaniel.Was er wohl hier macht?«
    »Er hat sich verlaufen.«
    »Verlaufen? Hier verlaufen?« Valentí Targa war mißtrauisch. »In diesen Scheißbergen? Und jetzt streift er hier durch die Wälder wie ein Wildschwein?« Zurückgelehnt in seinen Stuhl, die Hände in den Hosentaschen, wartete er geduldig, bis Oriol die Papiere durchgelesen hatte. Balansó, der mit dem schmalen Schnurrbart, kam herein, trat aber auf ein energisches Kopfrucken Targas sofort wieder den Rückzug an.
    »Ich bin kein Rechtsanwalt.« Oriol hob den Kopf; ihn schauderte.
    »Du

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