Die Stimmen des Flusses
geliebt?«
»Ja, natürlich.«
»Vielleicht hat ihn das alles stärker mitgenommen, als wir dachten.«
»Vielleicht.Warum lassen Sie mich nicht mit ihm reden?«
»Er ist nicht hier. Ich bin allein im Büro.«
Wie zum Beweis der Worte der Direktorin vernahm Elisenda am anderen Ende der Leitung das Husten eines Mannes.
»Nun gut«, sagte sie matt. »Ich kümmere mich darum.«
Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, erfaßte sie die Lage auf einen Blick: Die Schweden würden bleiben, und Gasull war im Aufbruch.
»Gasull.«
Der Rechtsanwalt, der gerade nach seinem Hut greifen wollte, erstarrte mitten in der Bewegung.
»Sie müßten mir einen eiligen und äußerst wichtigen Gefallen erweisen.«
Die Augen von Gasull leuchteten auf bei der Überlegung, mit welcher neuen Mission sie ihn wohl betrauen würde.
»Nein, ich habe nur gefragt, ob du was gesehen hast.«
»Ich weiß von nichts.«
Schweigend legten sie zehn weitere Kilometer zurück. Gasulls Fiat Balilla schlug sich wacker, auch wenn die Federung unter den Schlaglöchern ächzte, denen der Rechtsanwalt nicht ausweichen konnte. Marcel lehnte sich wieder im Rücksitz zurück: »Ich möchte in Torena leben«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Ich möchte in Torena leben. Die Schule langweilt mich und Barcelona auch.«
»Wer weiß, ob du nicht zum Bauern geboren bist«, wagte Gasull zu scherzen.
»Und wenn?«
»Schon gut. Aber auf welche Schule würdest du denn gehen wollen, Marcel?«
»Auf die Dorfschule. Warum hast du mich gefragt, ob Mamà Herren zum Abendessen einlädt?«
»Herren und Damen, meine ich.«
»Warum willst du das wissen?«
»Weil …« Sie holperten durch ein Schlagloch, und das gab ihm Zeit, sich rasch eine Antwort auszudenken. »Weil … weil sie zuviel arbeitet. Ich sage ihr immer, sie solle früher schlafen gehen, aber …«
»Mamà arbeitet nicht zuviel. Ich finde eher, sie arbeitet nicht besonders viel.«
Gasull warf im Rückspiegel einen raschen Blick auf den Jungen. Er wollte das Gespräch nicht abreißen lassen.
»Warum?«
»Sie redet immer nur mit den Leuten am Telefon und im Wohnzimmer.«
»Es gibt verschiedene Arten zu arbeiten. Möchtest du eine Limo?«
»Ja.«
Der Wagen hielt am Ortseingang von Les Franqueses. Während der Junge genüßlich trank, sah er durch Gasull hindurch, als wäre er durchsichtig. Der Rechtsanwalt wollteihn aus seinen Gedanken reißen: »Was ist los? Bist du traurig wegen deines Vaters?«
»Pfff.Warum?«
»Senyora Pol sagt, vielleicht …«
»Senyora Pol ist dumm.«
»Warum?«
»Es tut mir nicht leid, daß Vater tot ist. Er hat mich nicht geliebt.«
»Das kannst du nicht wissen.«
Rechtsanwalt Gasull, jung genug, um sich noch keine Sorgen zu machen, war gerührt bei der Vorstellung, daß er – je nachdem, wie man es sah – dem Kind eher ein Vater war, als Senyor Santiago es je gewesen war. Er war ein Vater für Elisendas Sohn.
»Und ob ich das weiß. Er hat mich immer so komisch angesehen.« Marcel trank einen Schluck Limonade. »Warum fahren wir nicht nach Torena?«
»Heute wäre es nicht gut, wenn Kinder dort wären. Sie arbeiten.«
»Na und?«
»Mamà hat gesagt, ich soll dich nach Barcelona bringen, also bringe ich dich nach Barcelona. Du willst sie doch nicht verärgern, oder?«
»Ich glaube, Mamà weiß gar nicht, daß es mich gibt.«
Rechtsanwalt Gasull erschrak, denn die gekränkte Bemerkung des Jungen stand so deutlich im Raum, als hätte er selbst sie getan.
47
Am 18. November 1957, wenige Tage nach der glanzvollen Einweihung der Skistation von Tuca Negra und etwas mehr als dreizehn Jahre nach dem heldenhaften Märtyrertod Oriol Fontelles’, verkündete Seine Hochwürdigste Exzellenz, der Bischof von La Seu d’Urgell, daß die Tugenden dieses Dieners Gottes ausreichend seien, um ihn zu einem Ehrwürdigen der Kirche zu ernennen.
Zu dem feierlichen Akt in der Kathedrale hatten sich zahlreiche Gläubige eingefunden, dazu eine erkleckliche Anzahl von Vertretern der Macht in Torena, diesem beschaulichen Ort im Vall d’Àssua, einem Tal der Region Pallars im geschäftigen, beschaulichen Katalonien, wo sich die Tragödie abgespielt hat, die das Martyrium des Oriol Fontelles zur Folge hatte, der ab heute »ehrwürdig« genannt werden darf.
Die Zeitungen versäumten zu erwähnen, daß unter den Anwesenden der Domkanoniker Doktor August Vilabrú fehlte, ein berühmter Wissenschaftler und frommer Mann, der sich als einer der ersten für die Seligsprechung des erwähnten
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