Die Stimmen des Flusses
zum ersten Mal, daß ein bewußtes Leben einen vierundzwanzig Stunden am Tag in Anspruch nimmt.«
Rendé persönlich räumte ihre Teller ab und brachte ihnen das Vanilleeis. Kaffee? Zwei? Irgendeinen Likör? Nein? Jetzt öffnete Jordi mit vor Ungeduld leuchtenden Augen seinen Rucksack, nahm ein großes, in grünes Geschenkpapier gewickeltes Päckchen heraus und legte es auf den Tisch.
»Das Leben im Dorf ist nicht gut für Mamà.«
»Elisenda will Torena nicht verlassen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«
»In Barcelona hätte sie alle Ärzte in ihrer Nähe, außerdem ihren Enkel, und ich könnte … Und du, Gasull …«
»Ich habe immer gedacht, daß ich einen Großteil des großzügigen Gehalts, das ich seit Jahren kassiere, dafür bekomme, zwischen Barcelona und Torena hin- und herzufahren. Eines Tages wird man die Welt von jedem Winkel der Erde aus beherrschen können, wenn ich auch noch nicht weiß, wie.«
»Das sind Geschichten. Hör zu und versuch, sie zu überzeugen: Mit der Demokratie und den neuen Leuten in den Rathäusern wird die Nachfrage nach Mehrsporthallen steigen.«
»Willst du jetzt etwa ins Baugeschäft einsteigen?«
»Nein: Ich will, daß wir uns auf Sportanlagen verlegen. Das wird eine Goldgrube.Vor allem, wenn wir uns eine gute Startposition sichern. Überleg mal: Die Gemeinderäte müssen sich ein neues Image zulegen, sie müssen sich für die Ortschaften etwas Neues einfallen lassen, wenn sie die nächsten Wahlen nicht verlieren wollen.«
»Manchmal machst du mir angst, genau wie deine Mutter.«
»Warum?«
»Ihr seid allen anderen immer zwei Schritte voraus.«
»Das liegt vielleicht in unseren Chromosomen. Und warum eigentlich keine Baufirma? Das würde die Risiken verteilen.«
»Möchten Sie noch etwas, Senyor Vilabrú?«
Marcel sah Gasull an, und bevor der Rechtsanwalt sich äußern konnte, entschied er für beide: »Wir gehen direkt zum Kaffee über. Und zwei Whisky.« Als Rendé gegangen war, zeigte er auf das Lokal: »Findest du dieses Restaurant nicht sehr urig?«
»Ich war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hier.«
Freudig erregt nahm Tina das Päckchen entgegen. Mit ungeduldigen Fingern zerriß sie das Papier.
»Heute ist weder mein Namenstag noch mein Geburtstag. Was ist los?«
»Heute sind wir genau sechsunddreißig Tage verheiratet.«
»So lange schon?«
»Ja.«
Meine Güte, wie die Zeit vergeht, sechsunddreißig Tage. Ja, Tempus fugit. Das ist aber schwer aufzumachen. Im Geschenkpapier lag eine schwarze Schachtel, etwas kleiner als ein Schuhkarton. Tina sah die Schachtel auf dem Tisch an. Ihre Augen strahlten, aber sie beherrschte sich, bis Rendé ihnen den Kaffee gebracht hatte. Als sie wieder allein waren, öffnete sie die Schachtel zum sechsunddreißigsten Tag ihrer Hochzeit feierlich, und Jordi hielt den Atem an und dachte, hoffentlich gefällt es ihr
Es war eine wunderbare Nikon Spiegelreflexkamera. »Die hat doch bestimmt ein Vermögen gekostet, Jordi.« »Gefällt sie dir?« »Und wie! Aber ich habe keine Ahnung vom Fotografieren.« »Na, jetzt kannst du es ja lernen. Mit ihr kannst du alles ausdrücken, was dich bewegt.«
Neugierig nahm Tina die Kamera in die Hand.
»Es ist schon ein Film drin«, sagte Jordi.
Zerstreut beobachtete Marcel, während er in Gesellschaft Gasulls seinen Cardhu trank, wie die Hippietante am Tisch in der Mitte ihren Freund fotografierte, einen Bärtigen mit wirrer Mähne und wahrscheinlich ebenso wirren Ideen.
»Weißt du, wer an dem Tisch da hinten sitzt?«
»Nein.«
»Feliu Bringué. Der neue Bürgermeister von Torena.«
»Ach, der ist das?«
»Sein Vater war während des Kriegs Bürgermeister. Er haßt Mamà.«
»Warum glaubst du, daß er sie haßt?«
»Dorfgeschichten.«
»Nein, keine Dorfgeschichten.« Wie immer war Gasull informiert: »Bringué will eine neue Skistation eröffnen.«
»Ach du Scheiße.Wo?«
»Neben Tuca Negra.«
»Der Mistkerl.Wir sollten etwas unternehmen.«
»Kümmer du dich um die Schweden, deine Mutter paßt schon auf Tuca auf.«
»Das erste Foto, das ich mit dieser Kamera gemacht habe, zeigt meine Liebe.«
»Danke. Ich wünsche mir, daß diese Liebe immer größer wird.«
»Das liegt allein in unserer Hand, Jordi.«
Die nächsten Jahre lang war Gott nicht zum Scherzen aufgelegt und ließ diese Personen nicht mehr an einem Ort zusammenkommen. So konnten sie sich in alle Winde zerstreuen, und jeder von ihnen konnte seiner Leidenschaft frönen.Die Leidenschaft Marcel Vilabrús,
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