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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
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mir, als wäre sie auf ihn nicht besonders stolz. Drei kleine Kinder trieben sich im Hof herum und schrien aus Leibeskräften. Sie waren winzig und wollten auf den Arm genommen werden; der Lärm der beiden Kleinsten war ohrenbetäubend. Ehe redete auf seine junge Tante ein, er sprach erstaunlich viel. Sein Arabisch bekam eine gewisse Heftigkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte, aber vielleicht lag das mehr an der Natur der Sprache.
    Die Tante gefiel mir. Sie war ein üppiges, junges Weib, das mich verwundert und gar nicht kriecherisch betrachtete. Sie erinnerte auf den ersten Blick an orientalische Frauen, wie sie Delacroix gemalt hat. Sie hatte dieselbe längliche und doch volle Form des Gesichts, denselben Schnitt der Augen, dieselbe gerade und etwas zu lange Nase. Im kleinen Hof stand ich ganz dicht bei ihr, unsere Blicke trafen sich in natürlichem Gefallen. Ich war so betroffen, daß ich die Augen senkte; aber da sah ich ihre starken Fesseln, sie waren so anziehend wie ihr Gesicht. Ich hätte mich gern neben sie gesetzt. Sie schwieg, während Élie noch immer auf sie einsprach und die Kinder lauter und lauter schrien. Ihre Mutter war nicht weiter von mir entfernt als sie selbst. Sicher spürt sie etwas, dachte ich mir, es war mir peinlich. Die wenigen Möbel waren im Hof aufeinandergetürmt, die Zimmer, in die man hineinsah, standen leer; man hätte sich nirgends hinsetzen können. Die Wände waren frisch getüncht, als wäre man eben eingezogen. Die junge Frau roch sauber wie ihre Wände. Ich versuchte mir ihren Mann vorzustellen und beneidete ihn. Ich verbeugte mich, gab ihrer Mutter und ihr die Hand und wandte mich zum Gehen. Élie kam mit mir. Auf der Gasse draußen sagte er: »Es tut ihr leid, daß sie beim Reinigen sind.« Ich konnte nicht an mich halten und sagte: »Ihre Tante ist eine schöne Frau.« Ich mußte es jemand sagen und vielleicht hoffte ich auch gegen alle Vernunft, daß er erwidern werde: »Sie wünscht Sie wiederzusehen.« Aber er verstummte.
    Er nahm so wenig Notiz von meiner unerklärlichen Neigung, daß er vorschlug, mich jetzt zu einem Onkel zu führen. Ich ergab mich drein, ein wenig beschämt, weil ich mich verraten hatte; vielleicht hatte ich gegen die Sitte gehandelt. Ein häßlicher oder langweiliger Onkel würde die schöne Tante aufwiegen.
    Auf dem Wege erklärte er mir die komplizierten Familienverhältnisse. Sie waren eigentlich mehr reichhaltig als kompliziert, es gab Angehörige von ihm in den verschiedensten Städten Marokkos. Ich brachte die Sprache auf seine Schwägerin, die ich tags zuvor gesehen hatte und erkundigte mich nach ihrem Vater in Mazagan. »C'est un pauvre«, sagte er, »ein Armer.« Er war, wie man sich erinnern wird, der Mann, der Samuel hieß. Er verdiente nichts. Seine Frau arbeitete für ihn, sie allein hatte die Familie erhalten. Ob es in Marrakesch viele arme Juden gäbe? »250«, sagte er, »die Gemeinde gibt ihnen zu essen.« Unter Armen verstand er Leute, die bettelarm waren, und er sonderte sich sehr deutlich von dieser Klasse ab.
    Der Onkel, zu dem wir nun gingen, hatte eine kleine Bude außerhalb der Mellah, in der er Seidenstoffe verkaufte. Er war ein magerer, kleiner Mann, bleich und traurig, der wenig Worte machte. Seine Bude war einsam, niemand näherte sich ihr, solange ich davor stand. Es sah aus, als machten alle Passanten einen Bogen um sie. Auf meine Fragen antwortete er in korrektem, aber etwas einsilbigem Französisch. Das Geschäft ging sehr schlecht. Niemand kaufte etwas. Man hatte kein Geld. Fremde kamen nicht wegen der Attentate. Er war ein leiser Mann und Attentate waren ihm zu laut. Seine Klage war weder scharf noch heftig: Er gehörte zu den Leuten, die immer daran denken, daß fremde Ohren sie hören könnten, und seine Stimme war so gedämpft, daß ich ihn fast nicht verstand.
    Wir verließen ihn, als wären wir gar nicht dort gewesen. Ich hatte Lust, Élie zu fragen, wie dieser Onkel sich bei der Hochzeit aufgeführt hatte. Schließlich waren es erst zwei Tage her, daß die Familie ihr großes Fest gefeiert hatte. Aber ich unterdrückte diese etwas boshafte Äußerung, die er ohnehin nicht verstanden hätte, und sagte, daß ich nun zurück nach Hause müsse. Er begleitete mich bis zum Hotel. Auf dem Wege zeigte er mir noch den Uhrenladen, in dem sein Bruder arbeitete. Ich warf von außen einen Blick hinein und sah ihn ernst über einen Tisch gebeugt, wie er durch eine Lupe die Teilchen einer Uhr betrachtete. Ich wollte

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