Die Strafe - The Memory Collector
sie den Schalthebel. »Zum Flughafen San José.«
KAPITEL 35
Ian Kanan bog nach rechts ab. Sein Blick strich über die Straße.
Er befand sich in einer Wohngegend. Es war stockfinster. Straßenschilder in englischer Sprache. Sein Herz hämmerte.
War er vor jemandem auf der Flucht? Er schaute nach hinten. Niemand war ihm auf den Fersen. Oder machte er Jagd auf jemanden? Er sah wieder nach vorn. Kein Mensch weit und breit.
Ratlos bremste er. Am Rückspiegel baumelte ein Rosenkranz. Auf der Ablage hinter der Windschutzscheibe stand ein Wackelkopfjesus mit Sonnenbrille und Fußball. Mit wessen Pick-up war er unterwegs?
Er klappte die Sonnenblende nach unten und fand die Zulassungsdaten. Nikita Khrushchev Diaz .
Er fasste wieder Mut. Diaz konnte er blind vertrauen. Wenn er Nicos Wagen fuhr, hieß das, dass er Fortschritte gemacht hatte. Aber Diaz war nicht hier und seine Familie auch nicht.
Notizen auf dem Armaturenbrett. Slick im Rucksack. Uhrzeit!
Er schaute auf die Uhr. Es war zehn.
Der Alarm am äußeren Ring war auf halb zehn eingestellt. Warum? Hatte es gepiept? Er wusste es nicht mehr.
Er zog den Reißverschluss seines Rucksacks auf und entdeckte den Akku. Dann schaute er sich im Wagen um. Hinter den Sitzen war ein ganzes Waffenarsenal verstaut. Gott segne Nikita Khrushchev und jeden Wackelkopfmessias.
Plötzlich schrak er zusammen; in seiner Hosentasche vibrierte es. Soeben hatte sich sein Telefon eingeschaltet.
Das hieß, er hatte irgendeine Deadline. Und die Einstellung an der Armbanduhr bedeutete vielleicht, dass er eine Verabredung hatte.
Gespannt zog er das Handy heraus. Dann las er das Display. »Scheiße.«
Riva Calder.
Sie war der letzte Mensch, mit dem er jetzt reden wollte. Es war schon anstrengend genug, dass er sich in der Arbeit mit ihr herumschlagen musste. Aber in einer Krise, und noch dazu einer, die er gar nicht richtig begriff, war ihm das zu viel.
Erneut bebte das Handy. Er zögerte.
Was konnte sie so spät am Abend noch von ihm wollen? Sie konnte ihre verrückte Lust auf ihn nicht verbergen, aber ihr musste doch klar sein, dass sie sich mit einem Anruf am Freitagabend um diese Zeit eher schadete.
Trotzdem hing sie jetzt am Apparat. Er verstand es nicht - aber Riva verstand er sowieso nicht. Eine beruflich erfolgreiche, intelligente Frau, die eine Leidenschaft für ihn
hegte wie eine schwärende, unheilbare Wunde. Sie konnte von Glück sagen, dass ihr Misty nicht schon vor Jahren eins mit dem Baseballschläger übergezogen hatte. Aber selbst Riva rief ihn nach Dienstschluss nie auf seinem Handy an. Dafür war sie zu schlau. Und sie wusste, dass er nicht hingehen würde.
Außer es war irgendwas passiert. Er meldete sich. »Riva?«
»Ian, Gott sei Dank. Ich versuch schon seit Stunden, dich zu erreichen. Bist du allein?«
»Warum fragst du? Natürlich bin ich allein.«
Ihre Stimme klang abgehackt und gehetzt, als wäre sie gelaufen. »In dein Haus wurde eingebrochen. Misty und Seth sind verschwunden.«
Dünn wie Rauch streifte ihn eine Ahnung: An der Entführung war eine Frau beteiligt … Es war nur der Schatten von etwas, das man ihm gestohlen und für immer weggenommen hatte. Der Gedanke hielt sich kurz, dann verwehte er wieder.
»Ich weiß. Aber ich hol sie zurück«, erwiderte er.
»Ian, verdammt - die Zeit läuft uns davon.«
»Was soll das heißen?«
»Die Entführer konnten dich nicht erreichen. Hattest du dein Telefon ausgeschaltet?«
»Mit wem haben sie Verbindung aufgenommen?«, fragte er.
»Mit Chira-Sayf. Sie haben versucht, Alec an den Apparat zu kriegen, aber der war nicht da. Dann haben sie eine verrückte Nachricht durch die Telefonzentrale geschickt. Der Sicherheitsdienst hat mich verständigt.«
Er setzte sich gerade auf. »Was für eine Nachricht?«
»Ein Treffen um Viertel nach zehn.«
»Wo?«
»San José. In der Coleman Avenue, westlich des Flughafens.«
»Haben sie was über meine Familie gesagt?«
»›Die Kanans kommen von ihrem Ausflug zurück und können dort abgeholt werden. Aber das Gepäck nicht vergessen. ‹ Ian, meinen sie damit ein Lösegeld?«
»Warte.« Er griff nach einem Filzstift und schrieb sich in großen Buchstaben auf den linken Handrücken: 22.15, SJ Flgh. Los. Der Stift rollte auf die Mittelkonsole. »Bin schon unterwegs.«
»Ian, was …«
Er schaltete ab, warf das Telefon auf den Beifahrersitz und gab Coleman Avenue in das GPS ein.
Die sanfte Frauenstimme klang, als hätte sie alle Zeit der Welt. »In hundert
Weitere Kostenlose Bücher