Die Strafe - The Memory Collector
bestimmt nicht leben.«
Seth kletterte vom Bett.
Verzweifeld wand Jo die Handgelenke in den Plastikfesseln hin und her, um sie zu lockern. Sie gaben keinen Millimeter nach. Ihre Hände waren auf den Positionen zehn und zwei ans Steuer gebunden, als stünde ihr eine Lektion in der Fahrschule von Guantanamo bevor. Auf dem Beifahrersitz schob sich Calder eine Strähne hinters Ohr und schickte eine weitere SMS ab. Die letzten Stunden hatten Spuren in ihrem harten Puppengesicht hinterlassen. Und Blasen.
Die Tür vom Haus öffnete sich. Murdock und Vance
trieben eine Frau und einen etwa fünfzehnjährigen Jungen vor sich her. Vance trat nach einem großen zotteligen Hund. Der Hund fuhr mit gesenktem Kopf herum und legte die Ohren zurück. Er stellte sich sofort zwischen die Entführer und den Jungen.
Was waren das nur für Leute, die einen Jungen samt seinem Hund entführten?
Seth war geknebelt und seine Hände mit Plastikhandschellen gefesselt. Er blinzelte, geblendet vom hellen Garagenlicht. Das T-Shirt hing ihm schlapp um die mageren Schultern. Er hatte einen kupferfarbenen Haarschopf und die durchdringenden Eisaugen seines Vaters. Er schaute seine Mom an.
Misty Kanan war Riva Calders Doppelgängerin. Fest und geschmeidig. Das karamellfarbene Haar fiel ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. Sie wirkte mitgenommen, doch so groß die Angst in ihren großen dunklen Augen auch war, schien sie gleichzeitig beseelt von wilder Entschlossenheit. Ihr Blick huschte durch die Garage. Sie suchte nach einem Ausweg, nach einer Fluchtmöglichkeit. Und sie hielt sich zwischen den Entführern und ihrem Sohn.
Murdock stieß sie zum Tahoe. Angewidert schüttelte sie ihn ab, als hätte er Schleim an den Händen. Dann erst bemerkte sie offenbar, dass es ihr eigenes Auto war und dass Calder mit zerschundenem Gesicht auf dem Beifahrersitz hockte.
In ihrer Miene drückten sich Mitleid und Sorge aus. »O nein.«
Dann wandte sie sich Jo zu. Sie schien jeden Zug von Jos Äußerem in sich aufzunehmen, um sie später bei der Polizei
identifizieren oder an ihr Rache nehmen zu können. Ein Vierjähriger hätte das Funkeln in ihren Augen deuten können: Stirb, Schlampe.
Murdock zerrte sie zum Heck des Wagens. Wie ein Footballspieler rammte ihn Seth mit der Schulter. Er wollte, dass Murdock seine Mom in Ruhe ließ. Jos Atem stockte. Was für ein tapferer, furchtloser Junge.
Murdock versetzte ihm einen Stoß.
Misty spuckte ihm praktisch ins Gesicht. »Fass meinen Sohn nicht an.«
Was für eine tapfere, furchtlose Frau.
Die Männer öffneten die Hecktür und verstauten die Kanans auf der Ladefläche. Vance trieb den Hund weg von dem Wagen und zielte mit der Waffe auf ihn.
Seth schrie trotz seines Knebels und stürzte sich auf Vance.
»Nein, Seth.« Auch Misty kletterte wieder aus dem Wagen.
Murdock packte sie wütend und schleuderte sie erneut hinein. Er schüttelte den Kopf in Vance’ Richtung. »Nein, du Hohlkopf. Keine Schüsse.«
Vance hielt die Pistole seitwärts wie eine Figur aus einem Film. Widerstrebend ließ er sie nach unten sinken. Dann versetzte er dem Hund einen gemeinen Tritt. Jo hörte, wie sein Stiefel gegen die Rippen des Tieres krachte. Jaulend wich der Hund aus und taumelte geduckt zurück in die Ecke.
»Hör auf mit dem Blödsinn«, giftete Murdock. »Halt lieber die Frau in Schach.«
Mürrisch stand Vance vor der Hecktür Wache, während
Murdock aus dem Garagenschrank Stofffetzen und Kabelbinder holte.
Misty wandte sich nach vorn zu Calder. »Riva, alles in Ordnung? Mein Gott, was ist hier eigentlich los? Wie haben sie dich …« Ihr Blick sprang zu Jo, und sie bemerkte zum ersten Mal die Plastikfesseln, mit denen Jos Hände ans Lenkrad gebunden waren. »Was … Riva, was …«
»Halt die Klappe, Misty.«
Durch Mistys Augen raste ein Sturm aus Schock und Entsetzen. Murdock packte sie, knebelte sie, fesselte ihr die Hände und schloss die Hecktür.
Die Männer setzten sich auf die Rückbank, und Vance zielte mit seiner Waffe auf die Kanans. Calder beugte sich hinüber zu Jo und schaltete die Zentralverriegelung ein, damit keine der Türen von innen geöffnet werden konnte. Sie drückte auf eine Taste der Fernbedienung, und das Garagentor setzte sich erneut in Bewegung. Dann legte sie den Rückwärtsgang ein.
»Los.«
Langsam setzte Jo über die Auffahrt zurück bis zur Straße. Ihr Blick fiel auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war zehn.
»Wohin?«
Erneut nahm Calder ihr Telefon in die Hand. Nebenher bediente
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