Die Strafe - The Memory Collector
mit den Fingern im Rhythmus der Musik.
Tang war ein Seeigel, klein und borstig. Sie trug eine schwarze Pijacke, schwarze Hose, schwarze Stiefel. Stachliges schwarzes Haar. Jo wusste, dass sich hinter der rauen Fassade ein Herz verbarg - ein vorsichtiges, gut bewachtes Herz. Wer es erreichen wollte, musste mit Beulen und Schrammen rechnen. Sie mochte Tang sehr.
Mit eiskalten Fingern fummelte Jo nach dem nassen Schal, mit dem sie sich bis über die Nasenspitze vermummt hatte.
Tang beäugte sie. »Probst du für die Ninjaschule?«
»Und du willst wohl für Matrix vorsprechen.« Jo schälte sich aus dem Schal wie eine Mumie aus ihren Hüllen und schüttelte Wasser aus den braunen Locken.
Hinter der Theke schenkte ihre Schwester Tina eine Tasse Kaffee für Tang ein. »Jo steht voll auf diese Bushido-Philosophie - die Kriegerin, die keine psychischen Gefangenen macht. Ich schlage eher nach unseren irischen Vorfahren. Das waren Dichter und Musiker.«
»Wohl eher Witzbolde und Umstürzler.« Jo hielt ihr Telefon hoch. »Du hast mein Handy gekapert. Kannst du bitte den Kingelton löschen, den du da installiert hast?«
»Aber psychosocial passt doch wie die Faust aufs Auge.«
»Ironie, hab’s kapiert. Aber das Gebrüll erschreckt kleine Kinder und Polizisten.«
Das miese Wetter konnte Tinas guter Laune nichts anhaben. Sie hatte große Ähnlichkeit mit Jo, war aber zehn Jahre jünger und fünf Zentimeter kleiner. Außerdem hatte sie so viel Silber an Ohren und Fingern, dass man sie mit einem Magneten verwechseln konnte. Jo fragte sich öfter, was wohl passieren würde, wenn sie an einem besonders dynamischen Tag an einer offenen Besteckschublade vorbeikam.
Tina griff nach dem Handy. »Okay, ich ändere es. Aber nur unter einer Bedingung. Morgen Abend unternehmen wir was … was Kulturelles. Schau mich nicht so an, Jo. Du versprichst es mir schon seit Monaten, und jedes Mal springst du wieder ab. Bitte.«
»Wenn wir einen Frauenausflug machen, dann musst du mir schon einen Hinweis geben, was mich erwartet. Basteln mit Zahnstochern? Nahkampf?«
Tina schob die Unterlippe vor und machte Hündchenaugen.
Jo hob die Hände. »Okay, ich geb auf.«
Wie eine begeisterte Göre klatschte Tina in die Hände. Grinsend reichte sie Jo ihren Kaffee.
Jo lachte. »Aha, bin wohl gerade in eine Falle getappt.« Sie griff nach der Tasse. »Muss ich jetzt auch noch danke sagen?«
Tang führte sie zu einem Tisch. »Ich hab mit den Flughafenbeamten gesprochen. Ziemlich übler Zusammenstoß, den du da mit diesem Kanan hattest. Alles klar bei dir?«
»Nichts passiert. Aber er hat gesagt, dass er mich aufspüren wird«, antwortete Jo.
»Wie will er das anfangen?«
»Er hat sich meinen Krankenhausausweis geschnappt. Das wäre immerhin schon ein Anfang. Und er macht einen ziemlich findigen Eindruck.«
»Ein möglicher Stalker also. Mit Dachschaden. Sonst noch was?«
»Ich glaube, er will jemanden umbringen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Auf seinen Arm sind eine Namensliste und die Worte Sie sterben gekritzelt.«
Tang stellte ihren Becher ab. »Jetzt mal ganz von vorn, bitte.«
Jo erzählte ihr die Geschichte: die Belagerung der 747, Elektroschock, Anfälle. Die bizarren Kernspinergebnisse, Kanans Zorn und seine Entschlossenheit, das Krankenhaus zu verlassen. Das aggressive Verhalten gegen sie im Aufzug.
»Er will einen Auftrag zu Ende bringen und ›sie sich holen‹ - das waren seine Worte. Und er sagt, dass er nichts zu verlieren hat. Zusammen mit Sie sterben läuft das wohl auf eine Abschussliste raus.«
»Ist er der Typ, der durchdreht?«, fragte Tang.
»Wer weiß? Sein Gehirn wird gerade entkernt wie ein Apfel.«
»Was läuft da deiner Ansicht nach?«
Jo holte tief Luft. »Ohne weitere Beweise möchte ich nur ungern spekulieren.«
»Lass deine Fantasie einfach frei flottieren, Beckett.«
Jo lehnte sich zurück und tippte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Also schön. Eine Arbeitshypothese.«
»Du meinst eine Hypothese, von der wir vorsichtshalber ausgehen sollten.«
»Genau. Kanan war in Südafrika, angeblich eine Geschäftsreise. Dort kam er mit einer hochgefährlichen Substanz in Kontakt, die sein Kurzzeitgedächtnis irreparabel geschädigt hat. Vielleicht war er sogar in illegale Aktivitäten verwickelt.«
»Zum Beispiel?«
»Diebstahl.«
»Ja - warum würde er sonst mauern, wenn er weiß, was seine Gehirnverletzung ausgelöst hat?«
»Du sagst es.« Jo nickte.
»Du meinst, da wurde irgendein Ding
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