Die Strafe - The Memory Collector
der Tag mit seinem endlosen Horizont und einer Welt ohne Daniel vor ihr lag. Eine Welt, in die er nie zurückkehren, in der sie ihn nicht heraufbeschwören konnte. Die weite, geschäftige, aufgewühlte
Welt, die verlangte, dass sie sich durchschlug, in der sie sich verloren fühlte, weil sie sie nicht mit ihm teilen, weil sie ihn nicht mehr fragen, sich nicht an ihn lehnen, nicht mit ihm lachen, nicht in seine Umarmung versinken, ihn nicht ein letztes, allerletztes Mal, und sei es nur so lange wie das Schlagen einer Tür, »Johanna« sagen hören und damit wissen konnte, dass sie sein Anker und er der Stern am Nachthimmel war, an dem ihre Hoffnungen hingen und alles, wonach sie strebte, worum sie rang und was sie mit diamantenheller Liebe betrachtete.
Erinnerung. In den letzten zweieinhalb Jahren hatte sie gelernt, sich an ihren Mann zu erinnern, ohne sich unter die Oberfläche eines endlosen Ozeans der Tränen reißen zu lassen. Sie hatte gelernt, an ihn und selbst an seinen Tod zu denken, ohne das Ereignis noch einmal zu durchleben, ohne sich von den Bildern lähmen und das Adrenalin durch ihre Adern schießen zu lassen, bis sie nur noch schreien konnte. Diese Entwicklung hatte ihr die Trauergruppe ermöglicht, deren Leitung sie später übernommen hatte. Inzwischen konnte sie Abstand halten und sich einfühlen, ohne zusammenzubrechen, sie konnte ein Seil über den Abgrund werfen und anderen dabei helfen, ihren jeweiligen Kummer zu verarbeiten.
Wenn sie das Foto auf der Kommode betrachtete, spürte sie Zuneigung und Zärtlichkeit. Meistens. Wenn sie am Morgen aufstand, freute sie sich auf die Herausforderungen des Tages. Meistens.
Außerdem wachte sie in letzter Zeit mit einem Lächeln auf, mit schnellem Puls und einem albernen, verträumten Gefühl, das sie zuletzt als Jugendliche empfunden hatte. Mit dem Gefühl, verknallt zu sein.
Sie schleuderte ihre Sachen in den Wäschekorb, zog einen schwarz-weißen Kimono über und lief auf Zehenspitzen über den kalten Holzboden, um die Dusche aufzudrehen. Sie ließ das Wasser über sich rieseln, bis es die Hektik des Vormittags und Kanans Angriff weggespült hatte. Dann trocknete sie sich die Haare und ließ die Locken lose und wirr über den Rücken hängen, streifte sich einen elfenbeinfarbenen Seemannspullover, grüne Cargohosen und Wollsocken über und öffnete die Jalousien. Das Wetter war nicht mehr völlig hoffnungslos, sondern na ja.
Ihr Haus thronte auf der Hügelspitze und erlaubte einen Blick vorbei an dem polierten Grün des Magnolienbaums in ihrem Garten über viktorianische Wohngebäude und Häuser, die bemalt waren wie Matchboxautos. Hinter der Monterey-Kiefer eines Nachbarn, hinter Vierteln, die sich über die Hügel und Täler zogen wie über wogende See, und hinter den dunklen Wäldern des Presidio erhob sich die Golden Gate Bridge, die im Licht des stürmischen Nachmittags rot pulsierte. Jo wand sich das Haar nach oben und bändigte es mit einer großen Klammer.
Sie war auf halbem Weg nach unten, als es an der Tür klingelte. Ihr Herz machte einen kleinen Satz. Wahrscheinlich FedEx oder Postmann Wendell auf Amphetamintour, der seine Runden fünfmal so schnell drehte wie seine Kollegen, aber dafür wieder einmal alles falsch zustellte.
Aber wenn es nicht der aufgekratzte Wendell war, blieben als Möglichkeiten nur noch O Mist und Hätte Lippenstift auflegen sollen. Jo durchquerte den Flur und öffnete.
Gabriel Quintana stand vor der Schwelle. Beladen mit einem Beutel Donuts und zwei Bechern Kaffee, die gereicht
hätten, um einen Rennwagen mit Treibstoff zu versorgen.
»Darf ich dich in Versuchung führen?«
Sie lächelte.
Sie nahm ihm die Donuts ab und ließ ihn herein. »Gib mir Zucker, Butter und Koffein, dann kriegst du im Tausch meine Seele.« Auf dem Weg in die Küche warf sie einen Blick in den Beutel. »O ja. Was soll ich tun? Such’s dir aus. Eine Bank ausrauben? Wenn ich einen von diesen Schokokrapfen intus habe, springe ich sogar durch Panzerglas.«
»Ich hatte mir eher was anderes vorgestellt.«
Er stellte die Kaffeebecher auf den Tresen. Dann schlang er einen Arm um ihre Hüfte, zog sie an sich und küsste sie.
Anscheinend brauchte sie doch keinen Lippenstift.
Sie ließ die Arme über seine Schultern gleiten. Er trug ein blaues Flanellhemd über einem schwarzen T-Shirt und Jeans. Alte Caterpillar-Boots. Er sah aus, als wäre er direkt aus einem Handbuch zu My Name Is Earl spaziert.
»Alles Gute zum Donnerstag«, sagte
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