Die Strafe - The Memory Collector
den Mund.
Sie wand sich und hob das Knie, um nach ihm zu treten. Schon glitten die Türen zu. Der helle, polierte Boden, die sterilen Wände und das gnadenlose Neonlicht auf dem Korridor verengten sich zu einem Schlitz, dann waren sie ganz verschwunden.
Mit dem Knie drückte Kanan die Halttaste. »Was machen Sie mit Mistys Schal?«
Er war wendig und stark und bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit. Jo harkte mit dem Knie nach dem Alarmschalter. Kanan hob sie erneut hoch und trug sie in die entgegengesetzte Ecke der Kabine. In ihr kreischte die Klaustrophobie: eng brutal paranoid.
»Für wen arbeiten Sie?«, zischte Kanan.
Sie krümmte sich und trat nach seinem Rist.
»Für wen?« Er presste sie flach an die Wand. »Wenn ich die Hand von Ihrem Mund nehme, werden Sie dann schreien?«
Worauf du dich verlassen kannst. Sie schüttelte den Kopf.
»Ist auch besser so.« Seine rechte Hand kam nach oben. Sie umklammerte einen uralten Dolch. »Sie werden mir jetzt antworten, aber ganz leise.«
Die Klinge blitzte im Licht. Seltsame Muster waren in den glänzenden Stahl gegraben. Dunkle, geknickte, fast
verdrehte Linien - ähnlich wie bei einer Leiterplatte. Als sich der Dolch bewegte, schimmerten sie wie Öl.
Es war kein zeremonielles Seppukumesser. Nichts Japanisches. Aber alt - so alt, dass es seinen Zweck bestimmt schon erfüllt hatte, und nicht nur einmal.
Also schrie sie lieber nicht.
Noch nicht.
Er löste die Hand von ihrem Mund. »Was wollen Sie? Haben Sie es?«
»Misty hat Sie vor einer Viertelstunde in der Notaufnahme besucht. Ich hab mit ihr geredet.«
»Blödsinn.«
»Sie können sich nicht erinnern. Kommen Sie mit zurück in die Notaufnahme und …«
»Schluss mit den Lügen.«
Ihn von der Wahrheit zu überzeugen, war völlig unmöglich. Misty hatte sich bei ihrer Ankunft im Krankenhaus nicht in eine Liste eintragen müssen. Vielleicht konnten die Cops Kanan klarmachen, dass seine Frau da gewesen war - nachdem sie ihn überwältigt und mit Handschellen gefesselt hatten. Heilige Scheiße, diese Klinge sah wirklich scharf aus.
»Ich bin Psychiaterin. Ich habe Sie nach der Landung Ihres Flugzeugs aus London mit dem Krankenwagen hierhergebracht. Sie haben mir erzählt, dass Sie auf Ihrer Geschäftsreise in Afrika vergiftet wurden. Und dass sie sagen werden, dass Sie es selbst getan haben.«
Statt Verwirrung brandeten Wut und Argwohn über Kanans Gesicht. »Selbst getan? Das hättet ihr wohl gern. Und von wegen vergiftet. Kontaminiert trifft die Sache wohl eher.«
Damit änderte sich die Lage völlig. Trotz ihrer Furcht fragte sie: »Womit?«
Er legte sein Ohr an ihres. »Hören Sie zu.«
Er schnaufte schwer, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Jo spürte, dass er dem Zusammenbruch nahe war. Wenn sie nicht solche Angst gehabt hätte, hätte er ihr leidgetan. So aber hatte sie das Gefühl, mit einem verletzten Raubtier in eine Grube gestürzt zu sein.
»Wenn Sie Psychiaterin sind, können Sie auch mal den Mund halten und eine Minute zuhören. Das haben Sie doch gelernt, oder?«
Der Fahrstuhl war wie eine Blechdose, die sie zu zerquetschen drohte. Bloß nicht hyperventilieren. Ganz normal atmen.
Wenn nur dieses verdammte Messer nicht auf sie gezeigt hätte! Sie hatte keine Waffe und keinen Schutzschild, nichts, um sich zu verteidigen. Ihren Gürtel vielleicht. Oder die Hände.
»Sie behaupten also, dass Sie nicht wissen, was mich erwischt hat?« Er starrte sie an.
»Genau.«
»Und Sie möchten den Grund erfahren?«
»Ja.«
Seine Lippen wichen zurück und entblößten weiße Zähne. »Slick.«
Slick? Ihr Mut sank. »Hören Sie, ich will Sie nicht reinlegen. Sie haben eine schwere Gehirnverletzung. Sie brauchen Hilfe. Womit wurden Sie kontaminiert?«
»Klappe. Ich hol sie mir. Wo sind sie?«
»Wer?«
Er stieß sie heftig gegen die Wand. »Ich bin dabei. Ich mach den Auftrag. Und ich hol sie mir.«
Auf seinem linken Arm, knapp unter dem Ellbogen bemerkte Jo schwarze Linien auf seiner Haut. Worte. Sie selbst hatte ihm schwerer Gedächtnisverlust auf die rechte Handfläche geschrieben. Aber diese Worte stammten nicht von ihr.
Verdammt. Sie hasste es, wenn Sachen auf die Haut von Menschen gekritzelt wurden.
»Schauen Sie mich an!«, knurrte er.
Jo registrierte die brodelnde Wut in seinen eisblauen Augen. Der große Motor dahinter war Entropie: Chaos, Angst, Leid.
»Ich weiß, dass ich mich nicht erinnern kann. Aber ich bin nicht verrückt. Ich führe den Auftrag zu Ende.« Er
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