Die Strafe - The Memory Collector
Theke. Am Kühlschrank hingen Magneten und ein Highschool-Stundenplan. In der Ecke wartete ein mit Fressen gefüllter Hundenapf.
»Mrs. Kanan«, begann Jo, »die Polizei hat mich gebeten, Ians Geisteszustand zu untersuchen. Ich muss Ihnen einige direkte Fragen stellen, damit wir Ihren Mann aufspüren und herausfinden, wie es dazu gekommen ist, dass …«
Misty schnitt ihr das Wort ab. »Zu dieser Katastrophe, meinen Sie.«
»Ja.«
»Ich bin ziemlich hart im Nehmen. Fragen Sie, was Sie müssen.«
Misty schritt voran ins Wohnzimmer. Die Ikea-Einrichtung hatte einen preiswerten, fröhlichen Schick. Auf dem Tisch lagerte ein schräger Stoß Zeitungen. In der Ecke standen ein Wäschekorb und ein Bügelbrett mit einem einsatzbereiten Bügeleisen.
Misty wirkte sichtlich irritiert. Sie mochte hart im Nehmen sein, aber sie schien am Rande ihrer Kräfte. Sie setzte sich auf einen Polstersessel und umklammerte mit den Händen ihre Knie.
Jo ließ sich ihr gegenüber auf dem Sofa nieder. »Hat Ian Sie angerufen, seit er das Krankenhaus verlassen hat?«
»Nein.«
»Kann ich mir die Nachrichten anhören, die er nach der Landung auf AB gesprochen hat?«
»Ich hab sie gelöscht«, antwortete Misty.
Verdammt. Jo wahrte ihren neutralen Gesichtsausdruck. »Warum?«
»Neunundvierzig Nachrichten? ›Misty, bin gerade gelandet. ‹ ›Misty, bin schon unterwegs.‹ ›Misty, bitte geh ran.‹ Immer der gleiche verwirrte Ton. Wie eine Endlosschleife.« Sie scharrte sich mit den Fingernägeln über den Karorock,
als hätte sie einen unerträglichen Juckanfall. »Das hab ich einfach nicht ausgehalten.«
Tang stellte die Ohren hoch wie ein Terrier, der ein Eichhörnchen im Unterholz gehört hat. »Mrs. Kanan, nach Ihrem Aufbruch aus dem Krankenhaus hat Ihr Mann Dr. Beckett tätlich angegriffen.«
»Was erzählen Sie da?«
»Er hat sie in einen Aufzug gezerrt, ein Messer gezogen und sie an die Wand gedrückt.«
Misty gaffte Jo an. Heißer Zorn brach aus ihr hervor. »Er hat Sie an die Wand gedrückt? Wozu denn? Das glaube ich einfach nicht.«
»Und er hat Drohungen ausgestoßen«, fuhr Tang fort. »Gegen ein paar Leute, die sich wahrscheinlich auf einer Liste wiederfinden.«
»Ausgeschlossen.« Ihr Blick huschte zwischen Tang und Jo hin und her. »Das saugen Sie sich doch aus den Fingern. Drohungen? Ian ist schwer krank.«
Jo faltete die Hände im Schoß. »Ich weiß. Möglicherweise wurde Ian mit einer Substanz kontaminiert, die seine Gehirnverletzung hervorgerufen hat.«
»Kontaminiert? Wie kommen Sie denn darauf?«
»Durch Ihren Mann. Haben Sie eine Ahnung, wie er sich das zugezogen haben könnte?«
»Nein.«
Tang zückte ihr Notizbuch. »Er war auf einer Geschäftsreise in den Nahen Osten und nach Afrika. Was hat er da gemacht?«
»Was er immer macht. Sicherheitsdienst für Unternehmen.«
»Können Sie Genaueres dazu sagen?«
»Ian spricht nicht mit mir über seine Arbeit. Da geht es um Betriebsgeheimnisse.«
»Ist Ians Job gefährlich?«, fragte Jo.
»Nein.«
»Nie? Sicherheitsdienst für eine Hightech-Firma in Übersee?«
»Er begleitet Leute, damit sie nicht in Schwierigkeiten geraten. Er sorgt dafür, dass sie einen Riesenbogen um jede gefährliche Situation schlagen.«
»Was macht Chira-Sayf?«
»Materialforschung.« Misty wollte es dabei belassen, aber Jo und Tang starrten sie so lange an, bis sie hinzufügte: »Nanotechnologie.«
Jo nickte betont flüchtig. Aber in ihrem Hinterkopf war eine rote Fahne hochgeschossen. »Können Sie mir was über seine Ausbildung sagen? Seinen beruflichen Werdegang?«
»Warum?«
»Ich muss so viele Informationen sammeln wie möglich.«
Misty kreuzte die Beine. Ihr rechter Fuß zuckte. »Zehn Jahre bei der Armee. Danach hat er eine Karriere eingeschlagen, wo er seine Fähigkeiten einsetzen konnte.«
»Welche Fähigkeiten?«
Misty musterte sie scharf. »Waren Sie beim Militär?«
»Nein. Warum?«
»Wenn sie Armee hören, denken manche Zivilisten einfach: Ja, Sir, nein, Sir, Tarnanzüge, Rumgeballere. Aber bei den Streitkräften gibt es Dutzende von Spezialgebieten. Ian war bei der Aufklärung.«
Tang notierte alles. In der Stille war das Kratzen ihres Stifts deutlich zu hören.
Jo fiel ein gerahmtes Foto in einem Bücherregal auf. »Ist das Ihr Sohn?«
»Seth«, antwortete Misty.
Der Junge auf dem Bild hatte Kanans kupferfarbenes Haar und frostblaue Augen hinter einer Brille. In seinem Lächeln lag etwas Großspuriges. Das roch natürlich nach Pubertät,
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