Die Strafe - The Memory Collector
ein.
Tang fuhr los. »Hast du schon einen Plan für diese psychologische Nicht-Autopsie?«
»Die Grundlagen für die Bewertung von Kanans Situation sind die gleichen wie bei einem ungeklärten Todesfall.
Erst mal muss ich mir ein Persönlichkeitsprofil des Betreffenden erarbeiten.«
Tang steuerte den Hügel hinunter, und Jo stützte sich ab. Sie rasten an einer alten Frau mit einem Beagle vorbei, die den Gehsteig hinaufächzte wie Tenzing auf den Mount Everest.
»Ich muss rausfinden, was hinter seiner Gehirnverletzung steckt«, erklärte Jo.
Im Rahmen einer psychologischen Autopsie überprüfte Jo normalerweise nicht nur die medizinische, psychologische und bildungsmäßige Vorgeschichte eines Opfers, sondern auch Polizei- und Unfallberichte. Sie befragte Familie, Freunde und Verwandte. Besonders aufschlussreich war, wie Bekannte und Verwandte auf den Tod eines Menschen reagierten. Entsprechendes galt für Anzeichen, die auf Selbsmordabsichten oder ein Verbrechen deuteten. Sie studierte schriftliche Aufzeichnungen des Opfers und erkundete seine Hobbys, Lesegewohnheiten und seinen Musikgeschmack. Seine Fantasien, Ängste und Phobien. Sie suchte nach möglichen Feinden.
Jetzt fuhr sie fort. »Ich brauche eine genaue zeitliche Abfolge der Ereignisse bis zu Kanans Verletzung. So kriegen wir am ehesten raus, was mit ihm passiert ist.«
»Schön. Du spielst also die gute Psychiaterin. Und ich rücke Misty Kanan ein bisschen auf die Pelle.«
»Hältst du das für nötig?«
»Wenn Kanan an einem gescheiterten Coup beteiligt war, wie wahrscheinlich ist es dann, dass seine Frau keine Ahnung davon hat?«
Jo dachte darüber nach. Trotzdem hatte sie Zweifel. »Sondieren
wir erst mal das Terrain. Schön langsam.« Sie warf Tang einen Blick zu. »Von deiner Seite ist das doch immer noch inoffiziell. Also ist es vielleicht besser, wenn ich die Initiative übernehme.«
Sie waren noch vor Misty Kanan da. Sie wohnte in einem Gipsbau mit Flachdach im Richmond District nördlich des Golden Gate Park. Die Häuser klebten aneinander wie Schuhschachteln, die Straße bot einen Blick auf Asphalt, Beton und Stromleitungen. Immerhin blühten die Kirschbäume. Faustgroße Blüten schmückten die Gehsteige mit ihrem leuchtenden Pink und hellten die Atmosphäre auf. In vielen Städten hätte so eine Siedlung als das untere Ende der Mittelschicht gegolten. Aber in San Francisco musste man nur eine Hamburgerverpackung auf die Straße werfen und ihr eine Hausnummer verpassen, und schon war sie eine halbe Million wert. Den Kanans ging es offenbar nicht schlecht.
Der Regen hatte aufgehört. Die Wolkendecke war aufgerissen, und am westlichen Horizont stand feuerrot die Sonne. Sie parkten. Kaugummikauend nagte Tang an ihren Fingernägeln.
»Kämpfst du gegen deine Nikotinsucht an?«, fragte Jo. »Fände ich toll.«
»Nein, Schätzchen, ich sitze auf glühenden Kohlen und bete, dass mich mein Traumlover zum Schulball bittet.«
»Klasse. Wie ich höre, ist das Motto beim Schulball dieses Jahr Graf Dracula.«
Schnaubend vergrub Amy die Schultern in ihrer Jacke. Jo ließ sie in Ruhe.
Am südlichen Ende der Straße bog ein mitternachtsblauer Chevy Tahoe um die Ecke zur Fulton Street. Der
Wagen war mit einem Frontschutzbügel ausgestattet. Hinterm Steuer saß Misty Kanan. Sie rollte heran und bog in die Auffahrt.
Jo und Tang stiegen aus und schlenderten hinüber. Der Tahoe stand im Leerlauf, während das Garagentor nach oben glitt.
Misty ließ ihr Fenster herunter. »Ich muss erst noch rein, um die Alarmanlage abzuschalten. Gehen Sie schon zum Eingang, ich mach Ihnen gleich auf.«
Sie fuhr in die Garage. Die Bremslichter glühten rot auf, umwirbelt von Auspuffgasen. Jo und Tang stellten sich vor die Tür und fröstelten im stürmischen Wind. Nach mehreren Minuten konnten sie endlich eintreten.
»Tut mir leid. Ich hab in den Schlafzimmern und im Hauswirtschaftsraum nachgesehen, in der Hoffnung, dass Ian vielleicht …« Sie zuckte die Schultern.
»War er hier?«, fragte Jo.
»Nein.« Sie breitete die Arme aus und ließ sie nach unten fallen. »Ich versteh nicht, dass er einfach aus dem Krankenhaus abgehauen ist.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum er geflüchtet ist?«, warf Tang ein.
»Weil er … durcheinander ist, im Kopf.«
Nach einem weiteren Achselzucken führte Misty sie in die Küche. Das Haus war solide und modern gebaut, die Böden aus hellem Holz. In der Spüle stapelten sich die Teller, eine Flasche Ketchup stand offen auf der
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