Die Strafe - The Memory Collector
Kartenautomaten.
Auf der Straße quietschten Reifen. Die Bremsen des Navigator kreischten auf, und sie wagte einen Blick über die Schulter.
Gabes schwarzer 4Runner hatte schlingernd gestoppt und blockierte schräg den Eingang zur Garage. Der Navigator stand davor und konnte nicht weiter. Kanan hupte, ein schrilles, insistierendes Lärmen. Der 4Runner bewegte sich nicht. Die Sirenen wurden lauter.
Kanan riss das Steuer herum. Einen Augenblick noch
blitzte das Sonnenlicht auf seinen getönten Scheiben, dann brauste er davon.
Eine Weile blieb Jo völlig reglos. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte kaum atmen. Die Welt pulsierte im Takt ihres Herzschlags.
Gabe stieg aus und lief auf sie zu. Sie stürmte los und warf sich ihm an den Hals. Ohne sein Tempo zu drosseln, legte er ihr den Arm um die Schulter und brachte sie zurück zum 4Runner.
»Alles in Ordnung?«
Sie nickte angespannt.
Sein Blick strich über die Straße, als er sie zur Beifahrerseite führte und die Tür öffnete. Sie kletterte hinein. Er lief um den Wagen, setzte sich hinters Steuer und lenkte zurück in den Verkehr.
»Wie hast du …« Sie drückte seine Schulter. »Danke.« Ihre Hand zitterte. »Wie hast du mich gefunden?«
»Das Telefon. Du hattest nicht abgeschaltet. Ich hab gehört, wie du Shepard aufgefordert hast, zur Sixteenth Street zu laufen.« Immer wieder spähte er in die Spiegel und auf die Straße. Sein Gesicht war grimmig. »Bist du verletzt?«
Mit fliegenden Fingern fummelte sie den Gurt in die Schnalle und harkte sich das Haar aus der Stirn. »Alles klar, Sergeant.«
Er warf einen Blick auf ihre Handflächen. Sie waren zerschrammt und schwarz vom Splitt nach dem Sturz über die Mülltonnen. Während sie sie anstarrte, zog das Zittern von den Händen hinauf in die Arme und Schultern. Schließlich schlotterte sie am ganzen Körper.
»Scheiße, das war echt unheimlich.«
Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Hinter ihren Augen wogte hell und schäumend die Angst. Nein, es waren Tränen. Sie blinzelte, und sie tropften ihr auf die Wangen. Fahrig wischte sie sie weg.
Sie konnte nicht fassen, dass sie ihm ihre Angst gestanden hatte. Das hatte sie fast noch nie getan. Einmal gegenüber ihren Eltern, als sie fünf war, einmal gegenüber Daniel, als sie im Yosemite Park hundertfünzig Meter über dem Grund des Tales hingen, und einmal gegenüber ihrer Schwester Tina in einer besonders verzweifelten Nacht nach Daniels Tod. Doch jetzt war es ihr bei Gabe einfach so herausgerutscht. Trotzdem war es ihr nicht peinlich, und sie kam sich auch nicht schwach vor. Vielleicht stand sie unter Schock.
Allmählich fand sie wieder in die Gegenwart zurück. »Hast du beobachtet, wohin Kanan gefahren ist?«
»Nach Süden. Und wir werden auf keinen Fall Jagd auf ihn machen.« Er umklammerte das Steuer. »Mir ist vor allem wichtig, dich zu beschützen. Und Sophie natürlich. Sie braucht einen Vater, keinen Helden.«
Er hielt vor der Ampel an der Sixteenth Street und schaltete den Blinker nach links ein.
»Ich bin unbewaffnet und kann mich nicht auf einen Kampf mit Kanan einlassen. Wir reden mit der Polizei und bringen dich sicher nach Hause.«
Die Sonne neigte sich bereits dem Westen zu. Länger werdende Schatten schoben sich über die Straße. Der Zorn in seiner Stimme war ihr nicht entgangen. Er wollte nicht, dass sie ihn für einen Feigling hielt, nur weil er einer Konfrontation aus dem Weg ging.
Als ob sie das könnte. Sie berührte sein Gesicht. Die Ampel sprang auf Grün, und er bog ab. Weiter vorn, vor dem Ti Couz stand ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Gabe steuerte darauf zu.
»Was hast du über Kanan rausgefunden?« Ihre Stimme klang noch immer brüchig.
Wieder ein Seitenblick. Statt einer Antwort legte ihr Gabe die Hand auf den Arm, halb um sie zu beruhigen, halb um zu überprüfen, ob sie gleich hyperventilieren würde. Typisch Rettungsspringer.
»Er war also nicht bei einem privaten Sicherheitsdienst?«
»Es ist noch schlimmer.«
KAPITEL 20
Seth Kanan hatte Angst. Er war müde und fühlte sich einsam, weil ihm niemand irgendwas sagte. Aber vor allem hatte er Angst.
Anscheinend wollten ihn alle im Dunkeln lassen. Um ihn herum war so tiefe Nacht, dass er nicht wusste, ob er vielleicht schon erblindet war. Er konnte nicht schlafen. Konnte nicht mit seinen Eltern reden. Obwohl er ganz allein war, fühlte er sich total überwacht. Er konnte nichts anderes tun, als sich Sorgen zu machen.
Er wartete und wartete
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