Die Strafe - The Memory Collector
Blick huschte über die Straße - keine Spur von Alec.
Hinter ihm hupte es. Kanan beschleunigte und fuhr zur Ecke. Der Mercedes war der Mittelpunkt. Davon ausgehend, musste er die Suche strahlenförmig fortsetzen. Er fuhr langsamer und bog links in die Querstraße.
Jo starrte Alec Shepard an. Auf einmal begriff sie den Schmerz und die Ratlosigkeit in seinen Augen.
»Ihr Bruder!«
»Ja. Und ich lasse nicht zu, dass er verhaftet wird.« Er nahm sie am Ellbogen. »Verschwinden wir hier.«
Sie befreite sich aus seinem Griff und zog sich wieder hinter die herabhängenden Kleidungsstücke zurück. »Na schön, großer Bruder - was ist wahrscheinlicher: Dass er sich einfach aus dem Staub macht, nachdem er uns aus den Augen verloren hat, oder dass er um den Block fährt?«
»Sie sagen doch, dass er vergessen wird, uns hier gesehen zu haben.«
»Stimmt. Er kann keine neuen bleibenden Erinnerungen
bilden. Aber er kann auf seine Erfahrung, seinen Instinkt und auf die problemorientierten Fähigkeiten zurückgreifen, die er im Lauf seines Lebens erworben hat. Er hat es bis hierher geschafft, das heißt, er hat sich irgendein System zurechtgelegt. Also, Mr. Shepard, vielleicht erzählen Sie mir was über ihn. Wie ist er?« Sie sprach den Nachnamen betont aus.
»Ich kann Ihnen alles erklären.« Wieder fasste er sie am Ellbogen.
Jo wollte sich nicht von ihm kontrollieren lassen und riss sich los. »Warum haben Sie mir nicht gleich verraten, dass Sie mit ihm verwandt sind? Wenn ich in den nächsten Sekunden nicht den Eindruck kriege, dass Sie es wirklich ehrlich meinen, setze ich keinen Fuß mit Ihnen aus diesem Laden.«
»Ich wusste nicht, ob ich Ihnen trauen kann. Für mich waren Sie eben eine Außenstehende.«
Verdammt , dachte Jo. Warum hatte ihr Misty Kanan nicht erzählt, dass die beiden Brüder waren? Warum hatte sie damit hinter dem Berg gehalten?
»Und was ist er genau? Halbbruder? Stiefbruder? Pflegekind?«
»Wir sind ganz normale Brüder. Unser Vater ist gestorben, als Ian noch ein Baby war. Mutter hat wieder geheiratet, als er sechs und ich schon im letzten Jahr an der Highschool war. Ihr Mann hat Ian adoptiert und ihm seinen Namen gegeben.«
Sie spähte um den Wald von plastikumhüllten Textilien herum zum Schaufenster. Auf der Straße war alles still. »Spekulieren Sie mal. Aus dem Bauch heraus. Brüderliches
Einfühlungsvermögen. Wo kommen wir am ehesten unbemerkt an ihm vorbei, vorn oder hinten?«
»Er ist unberechenbar. Das ist seine Stärke und seine Schwäche.«
Plötzlich schnitt eine harte, nasale Stimme durch den Laden. »Was treiben Sie denn da hinten?«
Im Gang stand der Besitzer der Reinigung. Er war klein, aufgedunsen und faltig wie eine vom Schleudern in der Waschmaschine zerdrückte Decke.
»Wir werden von einem Auto verfolgt. Wir haben hier Schutz gesucht, bis die Polizei kommt«, erklärte Jo.
»Quatsch. Verschwinden Sie.«
Shepard hielt die Hand hoch. »Vielleicht darf ich kurz …«
Der Mann griff hinter sich und brachte einen Baseballschläger zum Vorschein.
Mit beschwichtigender Geste trat Jo zur Theke zurück. »Nur zwei Minuten.«
»Verlassen Sie sofort meinen Laden.« Er hob den Schläger wie Mickey Mantle. »Und lassen Sie die Hände da, wo ich sie sehen kann.«
Jo tauchte um den Tresen und warf einen kurzen Blick durch das Schaufenster. Von hinten rollte der rote Navigator heran.
»Alec …«
Der Besitzer machte einen Schritt auf Shepard zu und holte zum Schlag aus. » Raus , hab ich gesagt.«
Shepard wich zurück. »Ich gebe Ihnen fünfzig Dollar, wenn Sie uns bleiben lassen.«
Der Mann jagte Shepard um den Tresen. »Raus, verdammt.«
Shepard griff nach der Brieftasche. »Hundert Dollar.«
Der Navigator kam näher. Shepard polterte heran. Der runzlige kleine Besitzer war ihm dicht auf den Fersen. Der Schläger sauste durch die Luft. Scheiße. Wieder holte er aus. Der zweite Hieb zischte nur Zentimeter an Shepards Kopf vorbei.
Erneut riss der Mann den Arm zurück, sein Blick hing an Jos Gesicht, als würde er sie mit einem Baseball verwechseln. Sie öffnete die Tür.
Die Türklingel ging. Ohne von seinem Guitar Player aufzublicken, sagte der Kassierer: »Schönen Tag noch.«
Gerade als Jo mit Shepard auf den Gehsteig stolperte, fuhr der Navigator vorbei. Sofort wandte sie das Gesicht ab, doch schon hörte sie kreischende Bremsen.
»Schnell.«
Sie rannten los. Jo hielt Ausschau nach irgendeiner Deckung, doch das Haus neben der Reinigung hatte vergitterte
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