Die Strafe - The Memory Collector
kleines Päckchen zutage. Jo zerrte sich die Socken von den Füßen, als stünden sie in Flammen. Sie wartete darauf, dass er die Folie öffnete, und blickte auf.
Da bemerkte sie seine Narben.
Weiß und glatt verliefen sie über die Wölbung seiner rechten Hüfte. Alte Narben, mindestens ein halbes Dutzend. Male der Gewalt. Etwas Scharfes oder Explodierendes hatte seine Haut zerfetzt.
Unwillkürlich streckte sie die Hand danach aus, doch dann hielt sie inne. Mit den Zähnen riss Gabe die Kondomverpackung auf. Sie schaute zu ihm hoch, und er erwiderte den Blick voller Erregung.
Er lächelte nicht, aber er wirkte glücklich, wie berauscht. Dann veränderte sich in einem Sekundenbruchteil sein Ausdruck. Er hatte etwas in ihrem Gesicht erkannt. Ihre Überraschung. Ihre Verunsicherung, ihren Zweifel.
Ihre Finger schwebten vor seiner Hüfte. Sie stellte die Frage mit den Augen.
»Lange her«, sagte er.
»Gabe?«
»Alles wieder heil.«
Diese Narben rührten nicht von einem Sturz auf der Treppe oder von einer Operation. Sie stammten von einer hässlichen Verletzung, die sehr tief gegangen war. Von einer mit großen Schmerzen verbundenen Verletzung.
»Was ist passiert?«
Ab und zu schaffte es Jo, sich selbst und ihre Umgebung von außen zu betrachten wie ein neutraler Beobachter.
Jetzt war es wieder einmal so weit. Sie sah sich: schockiert, betroffen und hoffnungslos neugierig. Sie sah Gabe: scharf und ziemlich genervt. Seine Miene sprach Bände: Nicht jetzt, verdammt noch mal.
Sie blinzelte. »Entschuldige.«
Sie packte ihn am Hosenbund und zog ihn wieder auf sich. Der Ausdruck seiner Augen war halb … ja, was? Wütend? Weil er unterbrochen worden war? Abgelenkt? Daran erinnert ?
Schmerz lag in seinem Blick, rot und geballt wie die glühende Spitze einer Zigarette. Er küsste sie nicht. Er lag auf ihr und atmete schwer.
Vielleicht wartete er ab, ob sie weiter auf die alte Wunde einhackte. Sie schüttelte den Kopf und legte sich den Finger an die Lippen, um ihm zu zeigen, dass sie den Mund halten würde. Dann strich sie mit dem Daumen über seine Lippen. »Komm.«
Einen Herzschlag lang hielt er noch an sich.
Lang genug, dass das Telefon läuten konnte.
Jo gab seinen Blick nicht frei, schaute nicht nach dem Apparat, griff auch nicht danach. Es klingelte.
»Die können später noch mal anrufen.«
Als wäre eine warme Brise durchs Zimmer geweht, klärten sich seine Augen. Er beugte sich wieder zu ihr und küsste sie. Das Telefon schrillte weiter. Sie nahm das Kondom aus der Folie.
Dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Klar und deutlich drang von unten aus der Diele Amy Tangs Stimme herauf. »Jo, du bist da, ich weiß es. Also geh bitte hin.«
Jo ignorierte sie.
»Du hast mir vor fünfzehn Minuten eine Nachricht hinterlassen. Ich rufe auf deine Bitte zurück.« Ihre Stimme wurde lauter. »Beckett.«
Gabe lugte durch die Schlafzimmertür, als wäre die Polizistin im Haus und kurz davor, sie auf frischer Tat zu ertappen.
Jo drehte seinen Kopf zurück. »Soll sie doch ein bisschen schmoren.«
»Drei Minuten?«
Ihr Lächeln wurde zu einem albernen Grinsen. »Endspurt?«
Endlich erwiderte er ihr Lächeln. »Los.«
Hastig fassten sie nach den letzten Textilien, die sie noch am Körper hatten.
Doch Tang ließ nicht locker. »Beckett, heb ab. Heute ist auf dem SFO Airport eine Maschine notgelandet, nachdem eine Stewardess bei zehntausend Fuß Flughöhe eine Tür geöffnet hat.«
Die Finger auf Haken und Knöpfen, hielten Jo und Gabe gleichzeitig inne. Jetzt blickten sie beide Richtung Flur.
»Es war die junge Frau, mit der du gestern am Flughafen gesprochen hast - Stef Nivesen. Sie wurde einfach zur Tür rausgerissen. Jo, die Leute, die mit Ian Kanan in der Maschine waren, drehen nacheinander durch.«
Jo war bereits auf dem Weg zum Telefon.
In der Tür des Sportartikelgeschäfts hing ein Schild mit der Aufschrift GESCHLOSSEN. Vom Navigator aus sah Kanan Nico Diaz im Laden, der gerade dichtmachte. Kanan parkte
ein Stück weiter oben an der Straße und marschierte zurück.
Als er an die Tür klopfte, blickte Diaz freundlich auf. Er entdeckte Kanan und stockte.
Nikita Diaz war ein venezulanischer Einwanderer der zweiten Generation mit einer Vorliebe für Baseball, Frauen und die USA. Er war eins siebzig und hatte nach hinten gebundene lange Dreadlocks, die als Schwanz eines Flugdrachens hätten dienen können. Bind ihm eine Schnur um , dachte Kanan, und warte auf eine ordentliche Brise,
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