Die strahlenden Hände
dem eigenen Körper – da steckt eben der Teufel drin!
Von morgens um neun bis mittags um zwölf empfing Corinna im Zelt die Kranken. Für jeden zwei bis drei Minuten, dazwischen die Zigaretten, das kurze Ausruhen, das Sammeln neuer Kraft. Wenn Marius Herbert um zwölf Uhr die schwere Holztür abschloß, war Corinna ausgelaugt, hohläugig, hatte blaue Schatten um die Augen. »Das hältst du nicht lange aus«, sagte er und mixte ihr dann meistens einen scharfen Drink aus weißem Rum, Grenadinesaft, Bitterorangen und gestoßenem Eis. »Das ist ja Wahnsinn!« Aber am Nachmittag sah man Corinna nichts mehr an.
An einem Sonntag, drei Wochen nach Errichtung des Zeltes, an einem hellen, bunten Herbsttag, traf in Hellenbrand eine Frau ein, deren Haß intensiver, stärker, vorwärtstreibender war als der Motor ihres Autos: Marikje Kerselaar. Die Wunderheilerin aus Holland.
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Professor Pieter van Meersei war vor fünf Tagen abgereist. Das stellte sich als sehr nachteilig heraus, denn so konnte niemand Corinna vor Marikje Kerselaar warnen. Aber van Meersei hatte in diesen Wochen genug gesehen, hatte fotografiert und gefilmt, Tonbänder laufen lassen, Interviews mit den Kranken gemacht, Beobachtungen niedergeschrieben, Krankengeschichten notiert und deren Verlauf verfolgt. Und er war immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß Corinna Doerinck mit normalen Maßstäben nicht gemessen und mit den sonstigen Naturheilkundigen, Magnetiseuren, Heilpraktikern, Psychosomatikern oder anderen Praktikern medizinischer Grenzgebiete nicht verglichen werden konnte. Die bio-energetische Kraft, die aus Corinnas Händen strahlte, war wirklich so etwas wie ein Wunder. So unwissenschaftlich das auch klang: Die Heilkraft, die Corinna in die Körper der Heilungsuchenden strahlte, war medizinisch zur Zeit kaum erklärbar. Daß eine Prostataentzündung nur durch In-die-Luft-Streicheln verschwand, daß ein Harnröhrenverschluß sich löste, daß eine chronische Gastritis nach sechs Behandlungen mit der bloßen Hand nicht mehr vorhanden war, daß ein Magengeschwür einfach eintrocknete – all dies glaubten Mediziner mit dem Begriff ›hysterische Spontanheilung‹ gerade noch erklären zu können. Daß aber ein Krebs vertrocknete, daß die Krebszellen einfach zerfielen, das unkontrollierte Riesenwachstum der Zellen unvermittelt aufhörte – das war ihnen schlicht unbegreiflich und fragwürdig. Das konnte nicht sein. Das war in ihren Augen eine Täuschung der gläubigen Kranken und schien den Tatbestand der Körperverletzung oder gar der fahrlässigen Tötung zu erfüllen – denn die Kranken, die zu Corinna Doerinck pilgerten, machten um ihre Ärzte zu Hause von nun an einen großen Bogen.
Das alles wollte van Meersei nun in einer großen, gründlichen Untersuchung niederlegen. Es sollte ein Denkmal für Corinna Doerinck werden. Bevor er zurückfuhr nach Holland, hatte er Corinna umarmt und ein ›Gotteskind‹ genannt. Was immer das heißen sollte – es sprach sich herum. In der letzten Woche mehrten sich die Kranken, die in Rollstühlen zu Corinna fuhren oder auf Tragen zu ihr gebracht wurden. Zu einer beängstigenden Flut wurde es, nachdem eine überregionale Zeitung mit einer Balkenüberschrift gefragt hatte: ›Hellenbrand – das deutsche Lourdes?‹
»Da haben wir es!« rief Bürgermeister Beiler in einer schnell einberufenen Ratsversammlung. »Genau das habe ich befürchtet! Mir ist klar, daß viele Bürger unserer Stadt, auch einige der Herren Stadträte, ein gutes Geschäft wittern – aber die Moral geht dabei vor die Hunde. Wie eine Seifenblase wird alles platzen. Und was dann? Dann stehen wir ohne Hosen da. Dann wird Hellenbrand ein Beispiel für menschliche Verblendung. Ein deutsches Lourdes – um Gottes willen!«
Marikje Kerselaar stieg in Havixbeck ab, nahm im Gasthaus ›Wasserburg‹ ein Zimmer, trank, auf ihrem Bett hockend, drei Genever und fuhr dann hinüber nach Hellenbrand. Es war vormittags gegen elf Uhr, ein Sonntag, wie gesagt. Vor dem Zelt stauten sich die Menschen. Der Duft von Bratwürsten und Reibekuchen, Fischbrötchen und Frikadellen lag über dem weiten Platz. Aber nicht nur die Freßbuden erinnerten an einen Jahrmarktplatz – es fehlte auch nicht das Bierzelt, Andenkenläden waren aufgebaut worden, eine Schießbude, eine Losbude und ein elektrisches Autodrom. Die Stadtverwaltung von Hellenbrand konnte eine Sondergenehmigung für diesen Rummel nicht umgehen, denn vier Stadträte waren unter den
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