Die strahlenden Hände
Kraft nicht erreichen … Ich müßte es spüren.
Sie stand auf, ging zu ihm, legte wieder beide Hände um seine Schläfen und sagte mit ruhiger Stimme: »Du hast diese Welt voll Farben gesehen, du bist in sie eingetaucht – nimm sie mit! Sieh dich um … Es hat sich nichts verändert!«
Marius Herbert öffnete langsam, wie aus tiefem Schlaf kommend, die Augen. Wieder waren über ihm ihre Brüste und erst weit darüber ihre schwarzen Augen mit den Goldpunkten.
Er lächelte schwach, reckte den Körper und streckte die Arme aus. Er bekam, über den Kopf hinweg, ihre Hüften zu fassen und zog sie zu sich. Einen leisen Schauer empfand er, als sein Kopf plötzlich in der Vertiefung ihres Schoßes lag. Sie wehrte sich nicht, sondern strich ihm mit der linken Hand über das Gesicht.
»Diese blöde Müdigkeit«, sagte er, »kam ganz plötzlich. Ich habe richtig gepennt, was?«
»So ähnlich«, antwortete sie sanft.
»Ich habe sogar geträumt. Ein verrückter Traum! Ich muß irgendwo in Südfrankreich gewesen sein, in einem anderen Jahrhundert. Die Frauen trugen lange Kleider und Federhüte, die Männer eine Art Cut. Ich saß da in einem Weinberg und malte eine Traube, und in diese Traube hinein ein Mädchengesicht und eine goldene Sonne und das ganze weite Land. Die Vision von Schönheit und Welt in einer Weintraube … das war einfach herrlich!«
»Du solltest es wirklich malen«, sagte sie und trat zurück. Er kam sich plötzlich wie gefallen vor, kalt und verlassen. »Wo hast du deine Malutensilien?«
»In Münster. Bei einem Freund. Eine alte Reisestaffelei, ein verbeulter Kasten mit Ölfarben, ein paar Pinsel … Ich habe schon lange nicht mehr auf Leinwand gemalt. Zu teuer, diese Rahmen. Ich habe immer nur noch Holz oder Pappe benutzt.«
»Nimm meinen Wagen und fahr sofort nach Münster!« sagte Corinna. Sie griff in die Tasche ihres Rockes, holte zwei Scheine hervor und drückte sie Marius in die Hand. »Kauf alles, was du brauchst, um das Bild, das du gesehen hast, zu malen.«
Marius starrte auf die Scheine. »Das sind ja zweihundert Mark …«
»Fahr!« Er zuckte unter dieser Stimme zusammen, sprang hoch, fing den Schlüssel auf, den sie ihm zuwarf, und rannte aus dem Zelt. Molly, die während der ganzen Zeit abseits auf dem Boden gelegen hatte, blickte ihm nach, zögernd, ob sie mitlaufen sollte. Dann seufzte sie laut, drückte den Kopf wieder auf ihre Pfoten und sah Corinna traurig an.
Es war das erstemal, daß sie ihrem Herrn nicht folgte.
*
An den nächsten Tagen geschah all das, was man geahnt, gefürchtet, erwartet hatte.
Die Zeitungen berichteten, die neuen Ausgaben der Illustrierten brachten die Bildberichte, im Fernsehen lief auf beiden Programmen eine Kurzreportage über die ›Strahlenden Hände‹ mit Ausschnitten aus der Pressekonferenz. Im Hörfunk wurden Befragungen von Straßenpassanten gesendet: ›Was halten Sie von Wunderheilern?‹ Die Antworten waren verblüffend. 32 Prozent sagten, das sei Blödsinn, 16 Prozent hatten keine Meinung, aber 52 Prozent meinten, so etwas sei möglich. Ja, auch in unserer aufgeklärten, technisierten, medizinisch so hochentwickelten Zeit. Über die Hälfte der zufällig Befragten glaubte also noch an Wunder! Das war unfaßbar!
Dr. Roemer wohnte noch immer bei Dr. Hambach und ließ sich von Corinna täglich drei Minuten behandeln; wenn er aus dem Haus ging, benutzte er einen geheimen Hinterausgang. Den Rest des Tages hatte er damit zu tun, sein Umfeld – wie er es nannte – abzuwehren. Elise, seine charmante Frau, war aus Ungarn tatsächlich zurückgekommen, von Willbreit über die Krankheit ihres Mannes unterrichtet worden und belagerte das Haus von Dr. Hambach. Daß der Arzt sie nicht hineinbat, war keine Unhöflichkeit oder Flegelei, sondern geschah unter Zwang. Er kam heraus zu Elise Roemer, die ihren Sportwagen vor der Tür parkte und auf ihren Mann wartete. Einmal würde Erasmus ja ins Freie kommen!
»Ich muß mich entschuldigen, gnädige Frau«, sagte Dr. Hambach zerknirscht, »auch wenn mich keinerlei Schuld trifft. Aber Ihr Gatte hat gedroht, mein ganzes Mobiliar durchs Haus zu schleudern, wenn ich Sie hereinlasse. Ich bin ein alter Landarzt, der den Rest seines Lebens gern mit den liebgewordenen Möbeln verbringen möchte. Bitte, verstehen Sie mich. Sie kennen Ihren Gatten. Er macht die Drohung wahr.«
»Hat … hat er denn noch die Kraft dazu?« stammelte Elise Roemer. »Bei seiner schrecklichen Krankheit?«
»Ihr Mann? Der hat die
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