Die strahlenden Hände
Ausflüge in die Taiga. Das Sowjetreich hatte sich vorsichtig geöffnet und zeigte der übrigen Welt auf einigen genau vorgezeichneten und gepflegten Routen, wie schön selbst Sibirien, das Land der Tränen, sein konnte. Sibirien war aber auch das Land der Zukunft, war der unerschöpfliche Topf, aus dem Rußland seine Stärke und seine Unbesiegbarkeit löffelte. Ein unendliches Land, reicher als alles auf dieser Welt! Die Ewigkeit Rußlands. Nur wenige im Westen begriffen das.
Für Ljudmila und Stefan Doerinck war dieses Rußland bisher verschlossen geblieben. Sie hatten es nie probiert, wieder in das Land zu kommen; sie hatten einfach Angst gehabt.
»Man soll das Schicksal nicht versuchen«, sagte Ljudmila immer, wenn das Gespräch auf ihre Heimat kam und wenn Bekannte erzählten, sie seien drei Wochen am Schwarzen Meer gewesen, bestens verpflegt, in Luxushotels wohnend, umgeben von einem Komfort, der an der Riviera oder an Spaniens Goldküsten, auf Teneriffa oder Madeira nicht anders sei. Weiße Strände, Ausflugsboote, Kurkonzerte, Tanzabende, in Sotschi sogar Oper und Ballett, ein Puppentheater und ein Zirkus. Und welche Herzlichkeit bei den Menschen! »Ihr habt nicht das Haus des KGB gesehen – dort würde ich hinkommen, wenn ich nach Poti, in mein Geburtshaus, wollte. Nein, ich werde Rußland nie mehr wiedersehen …«
Nun war alles anders gekommen. Nun schwebten sie langsam über das in der kalten Sonne funkelnde Moskau, drückten die Nasen an den Fensterscheiben platt, das Herz schwer von soviel erschauter Schönheit und von der bangen Erwartung: Wie wird es sein, wenn wir gelandet sind? Wie empfängt man uns? Was wird man spätestens bei der besonders strengen Paßkontrolle sagen? Wird man den Paß durchblättern, ernst aufblicken und mit einer fast maschinellen Stimme sagen: »Ljudmila Davidowna? Kommen Sie mit in den Nebenraum!«
Ljudmila saß steif da, mit durchgedrücktem Kreuz, als höre sie schon die kalte Stimme des Milizionärs. Ihr Platz war am Fenster hinter ihrer Tochter Corinna. Ihre linke Hand hatte sie fest in die Hand Stefans gedrückt, der neben ihr auf dem Sitz angeschnallt war und an ihrem Kopf vorbei die Stadt sehen konnte, wenn sich das Flugzeug bei seiner Schleife auf die Seite neigte. Wieder eine Reihe hinter ihnen hockte Dr. Hambach. Er hatte einen Stadtplan von Moskau auf den Knien, einen schönen gezeichneten Plan ›Moskau aus der Vogelperspektive‹ und freute sich kindisch, wenn er jetzt Straßen, Gebäude, Parks und Kirchen aus dieser Höhe identifizieren konnte.
Am gelassensten reagierte Marius Herbert. Er hatte den Kopf nach hinten gelehnt, die Augen geschlossen und hütete sich, Corinna zu gestehen, daß es ihm kotzeschlecht war. Er hatte bisher, von Frankfurt bis Moskau, sieben Wodkas getrunken. Die spürte er jetzt, zusammen mit dem Brathuhnschenkel, den es als Mittagessen gegeben hatte. Die ganze herzergreifende Schönheit der Stadt aus dieser Höhe blieb ohne Nachhall in seiner Seele; er dachte nur: Welch einen mörderischen Wodka haben die hier! Das ist mir noch nie passiert! Oder war das Hühnerbein verdorben? Man müßte jetzt mal so richtig rülpsen können!
Die Maschine drehte ab, ging tiefer und überflog ein großes Waldgebiet. Der Flugplatz Scheremetjewo hatte endlich die Landeerlaubnis gegeben. In wenigen Minuten würde man auf sowjetischer Erde stehen. Ljudmila verstärkte den Druck in Stefans Hand und wurde noch steifer. Er tätschelte ihren Arm, beruhigend, Mut zusprechend, mit einem stummen Lächeln.
Dem Flug nach Moskau waren erregende drei Wochen vorausgegangen.
Auf Corinnas Zusage, nach Moskau zu kommen, reagierte die sowjetische Botschaft teils erfreut, teils zurückhaltend. Die Kulturabteilung, die den Besuch vorbereiten sollte, fragte zunächst in Moskau zurück, was man antworten solle, denn Corinna Doerinck hatte in ihrem Brief unter anderem geschrieben:
»Meinen Aufenthalt in der UdSSR muß ich davon abhängig machen, daß mich folgende Personen begleiten dürfen: Mein Vater Stefan Doerinck, meine Mutter Ljudmila Davidowna Doerinck, mein Verlobter Marius Herbert und Herr Dr. Ewald Hambach, Arzt in Hellenbrand. Ich bitte um Mitteilung, ob das möglich ist. Selbstverständlich werden alle Kosten von den einzelnen Personen getragen, so daß den staatlichen Stellen keinerlei Unkosten entstehen …«
Die Antwort aus Moskau kam sofort per Fernschreiber: Genehmigt. Im Interesse der Forschung ist es selbstverständlich, daß das Institut von
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