Die strahlenden Hände
zurück.
»Nein!«
»Wo ist denn da ein Unterschied?«
Plötzlich war es wieder still im Zimmer. Die Männer sahen sich an wie zwei erschöpfte Boxkämpfer, die bei jedem Schlag nicht den Gegner, sondern nur die Luft getroffen hatten.
»Mir geht es gut«, war alles, was Ljudmila noch in die Stille hinein sagen konnte, aber die Leere füllte es nicht aus. Wo ist der Unterschied? Der Tod unter der flachen Hand oder der Tod unter dem chirurgischen Messer …
Dr. Willbreit warf die Röntgenbilder auf den Tisch zurück und zog seine verrutschte Krawatte gerade. Doerinck goß sich einen dreifachen Kognak ein, fast ein volles Napoleonglas.
Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß Corinna auf der Couch und zündete eine Zigarette an.
»Warum sind Sie nicht toleranter, Herr Professor?« fragte sie.
»Toleranz! Wie können Sie Toleranz erwarten, wenn Scharlatanerie in die Medizin einbricht?« Willbreit sah hinüber zu Ljudmila. Sie saß neben dem Gläserschrank an der Wand auf einem Stuhl, wie zur Seite abgestellt. Es ist fürchterlich, dachte er, in ihrer Gegenwart so etwas zu sagen. Eine grausame Herzlosigkeit. Man redet über den Tod, streitet um ihn herum, und sie, um deren Leben es geht, sitzt still dabei. Keiner kümmert sich darum, wie ihr jetzt zumute sein mag. »Ich … ich muß mich entschuldigen«, sagte er stockend. »Mir sind die Pferde durchgegangen. Das kommt selten vor, fast nie. Aber das, was hier aufgetischt wird, ist kaum noch zu ertragen.«
»Warum sind Sie so hochmütig?« Corinna erhob sich, ging hinüber zu ihrer Mutter, beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn. »Warum ist nur richtig, was ins akademische Denken paßt? Kommt die Schulmedizin gleich hinter Gott?«
»Es ist einfach absurd, Karzinome wegstreicheln zu wollen.«
»Ich trockne sie aus. Unter meinen Händen veröden sie.«
»Bitte, hören Sie auf! Mir sträuben sich die Haare.«
»Ich habe es dreimal erlebt bei Magengeschwüren …«
»Wie bitte?« Willbreit zuckte fast schmerzhaft zusammen. »Sie haben außer Ihrer Mutter noch mehr Kranke behandelt?«
»Kunden, die bei mir Teppiche bestellten.«
»Davon weiß ich nichts«, stotterte Doerinck. »Davon weiß ich absolut nichts. Das ist mir völlig neu.«
»Sie erzählten alle drei, daß sie in Behandlung seien. Rollkuren, Medikamente wie Antazida, Cimetidin, Sucralfat …«
»Die verhinderte Medizinerin«, warf Willbreit spöttisch ein.
»Aber bei diesen dreien kam es nicht voran. Ich sagte ihnen nicht, was ich mit ihnen tat, sie merkten es auch nicht. Während sie verschiedene Teppichentwürfe durchsahen, strich ich mit meinen Händen eine Minute lang über ihren Magen, in einer Entfernung von etwa zehn Zentimetern. ›Bei Ihnen wird es aber warm‹, sagten sie. ›Haben Sie die Heizung laufen?‹ – Unter dem Vorwand, noch andere Entwürfe zu machen, bestellte ich sie viermal wieder, und alle sagten mir dann freudestrahlend, daß die Magengeschwüre fast weg seien. Nach dem fünftenmal waren sie geheilt. Natürlich bedankten sie sich bei ihren Ärzten.«
»Mit Recht!« Willbreit winkte ab. »Die Therapie griff endlich durch. Nur Sie bildeten sich ein, daß Ihr Streicheln durch die Luft eine Wirkung auf das Ulcus hatte! Absurd, sage ich ja. Geradezu abstrus!« Er schlürfte einen weiteren Kognak, den Doerinck inzwischen eingegossen hatte, und wurde ruhiger. »Haben Sie noch mehr Unfug angerichtet?«
»Ja. Der größte Erfolg war die Heilung einer Prostatitis.«
»Verrückt!«
»Bei meinem Freund«, sagte Doerinck ruhig. »Bei unserem Hausarzt Dr. Hambach. Was sagen Sie nun?«
»Nichts.« Willbreit wischte sich über die Augen. Es ist die verrückteste Situation, in die ich bisher in meinem Leben gekommen bin, dachte er. Thomas, steh auf und geh. Hier ist jedes weitere Wort vergeudet. Aber er blieb sitzen und hielt Corinnas schwarze Augen aus. »Sie sind nicht bereit, mir Ihre – Behandlungsmethode zu demonstrieren?«
»Warum nicht?« entgegnete Corinna ruhig.
»Wie denn?«
»An meiner Mutter. Ich bin ja heute gekommen, um sie wieder zu behandeln.« Sie legte die langen Finger aneinander, als müsse sie sie aufladen. »Wenn es nicht unter Ihrer Würde ist, zuzusehen, Herr Professor – ich habe nichts zu verbergen.«
»Es ist ungeheuerlich, was hier passiert. Ich wiederhole es! Aber bitte, fangen Sie an. Ich will mich überzeugen, wozu verbohrte Menschen fähig sind. Nur deshalb bleibe ich noch hier.«
»Dann seien Sie jetzt ruhig!« sagte sie streng.
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