Die strahlenden Hände
Sie spürte, wie ungeheure Energie sich in ihr sammelte, wie irgend etwas Unerklärbares in ihr wuchs. Dabei dachte sie: Ihm werde ich es zeigen! Ihm werde ich beweisen, daß es eine Kraft gibt, die keinen Namen hat. Ich werde … ich werde …
»Komm, Matjuschka, zieh dich aus und leg dich hin«, sagte sie zärtlich zu Ljudmila und küßte sie wieder auf die Stirn. »Heute brauchen wir nur noch drei Minuten.«
»Warum?« fragte Dr. Willbreit und ärgerte sich sofort darüber.
»Weil es kaum noch nötig ist.« Corinna begleitete Ljudmila zur Couch. »Mama ist so gut wie geheilt.«
3
Dr. Willbreit fuhr zurück nach Münster als ein unversöhnlicher Feind von Corinna Doerinck.
Um sich zu beruhigen und Luft abzulassen, wie man so schön sagt, fädelte er sich bei Nottuln auf die Autobahn ein, ließ die Lichthupe blinken und trat das Gaspedal durch. Der Maserati reagierte wie ein gereiztes Raubtier; er machte einen Satz vorwärts, der Motor röhrte dumpf auf, und dann jagte Willbreit im 200-km-Tempo auf der linken Fahrbahn durch den Abend. Die Abfahrt Senden passierte er schon mit 240 km – es war ein Rausch für ihn, diese Geschwindigkeit, dieses Beherrschen der Technik. Es war, glaubte er, ein Beweis, daß seine Nerven in jeder Lage einwandfrei und schnell reagierten. Das letzte Stück dann bis Münster, am großen Autobahnkreuz Münster-Süd, fuhr er vernünftig und schwamm im Strom der abendlichen Stadtheimkehrer mit.
Was kann man tun? dachte er immer wieder. Ich kann doch angesichts dessen, was ich gesehen habe und jetzt weiß, nicht untätig herumsitzen und den Dingen ihren verhängnisvollen Lauf lassen! Es muß doch etwas unternommen werden. Er konnte nicht einfach schweigen, wenn ein Mädchen mit bloßen Händen selbst schwer therapierbare Krankheiten heilen wollte. Das würde für ihn als Mediziner zu einem untragbaren Gewissenskonflikt werden.
Das ist es! sagte sich Willbreit, zufrieden darüber, daß er das richtige Wort gefunden hatte. Mein Gewissen als Arzt ist hier aufgerufen! Meine ethische Verpflichtung. Mein moralisches Credo. Wie kann man unbeteiligt weiterleben mit dem, was ich erfahren habe?
Von Doerinck aus hatte er zunächst einen Abstecher zu Dr. Hambach gemacht.
Die drei Minuten, in denen Corinnas flache Hände über dem Leib ihrer Mutter schwebten, waren für ihn eine Zumutung gewesen, doch hatte er geschwiegen und sich nur einmal vorgebeugt, als Ljudmila mit geschlossenen Augen laut aufseufzte und schläfrig sagte: »Heute ist es besonders heiß. Aber gut, Cora … gut … Es tut so gut!«
In diesem Augenblick hatte Doerinck, zitternd vor Aufregung, seinen fünften Kognak getrunken.
Willbreit dagegen war nicht beeindruckt gewesen; nein, das konnte man keinesfalls sagen. Vielmehr stieg in ihm kaltes Entsetzen auf bei dem Gedanken, was diese Frau mit ihren Händen alles anzurichten vermochte, falls sich die ›Wunderheilungen‹ erst einmal herumsprachen. Fast automatisch würde eine Hysterie ausbrechen; es gab dafür Beispiele genug. Er dachte an andere Wunderheiler. An den Mann zum Beispiel, der mit Stanniolkugeln heilen wollte. Oder an den Kerl, der einen Eisenkegel über die kranken Körperstellen pendeln ließ. Oder an jene Frau in Süddeutschland, die einen Wundertrank mixte und flaschenweise verkaufte, und deren Gebräu auch dann noch ›Heilungen‹ bewirkte, als eine chemische Analyse ergab: Die Himmelsmixtur bestand aus nichts weiter als Wasser, Moorextrakt, Lehm und Zitronensäure. Die angenehmste Therapie aber hatte ein Bauernbursche entdeckt, der behauptete, jede Nacht in Trance neue Befehle aus dem Jenseits zu bekommen und neue Rezepte. Das Grundrezept blieb aber immer das gleiche: der Beischlaf. Der Bursche nannte es ›Biologische Plasma-Kommunikation‹ – ein völlig sinnloses Wort, aber die Weiber trugen sich in ›Behandlungslisten‹ ein und warteten manchmal gern bis zu drei Wochen auf den heilenden ›biogenetischen Strahl‹. Das alles aber war ein Spuk, der so schnell verflog, wie er gekommen war. Die Staatsanwaltschaft griff ein und entlarvte die Wunderheiler als Betrüger.
Willbreit grinste einen Augenblick lang bei dem Gedanken an die Beischlaftherapie, die immerhin geeignet war, rein hysterische Erkrankungen verschwinden zu lassen. Es gibt nichts Erstaunlicheres, Ausgefalleneres und Geheimnisvolleres als die menschliche Psyche oder, wie es sein Freund, der Richter Erasmus Roemer, deftig aussprach: »Die Ärzte hätten weniger zu tun, wenn es nicht so
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