Die strahlenden Hände
der andere läßt sich streicheln. Jedem Tierchen sein Pläsierchen … Willbreit, du Idiot, kehr um. Sofort kehrst du um!
Aber er fuhr weiter, fuhr nach Hellenbrand hinein und rollte langsam auf das Lehrerhaus zu.
*
Corinna saß an ihrem breiten Teppichknüpfrahmen und arbeitete an einem Wandteppich, der die Sagengestalt des Einhorns wiedergab, als der graue Ford auf dem Hof der Werkstattscheune hielt. Sie achtete nicht darauf, warf nur einen kurzen Blick auf das Auto und klopfte den Knoten fester, den sie gerade geschlungen hatte. Im vorderen Raum, der eine Art Ausstellungsraum war, klingelten die Signalglöckchen über der Tür, dann hüstelte jemand diskret und scharrte mit den Schuhen.
»Einen Augenblick, bitte!« rief Corinna. »Ich komme sofort!« Sie legte die Wolle hin, klopfte bunte Wollreste von ihrem Rock und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Aber bevor sie aufstand, war der Kunde schon in die Werkstatt gekommen.
»Sie werden sich wundern«, sagte er etwas stockend. »Ich wundere mich ja selbst. Wie sagte die Braut nach der Hochzeitsnacht? ›Das war alles?‹ Bitte lachen Sie …«
»Herr Landgerichtsdirektor!«
Sie drehte sich auf ihrem Schemel, stand dann auf und blieb vor ihrem Knüpfrahmen stehen. Roemer hob etwas müde die Hand.
»Lassen Sie den ganzen Titelmist weg, Corinna. Ich mußte zu Ihnen kommen!«
»Mit diesem Wagen?«
»Ich bin gewissermaßen zu Ihnen geschlichen. Anonym. Ich möchte nicht, daß man erfährt: Sieh da, der alte Esel Roemer geht zu einer Gesundbeterin.«
»Ich bete nicht …« Ihr Blick ging an Roemer vorbei. »Sie möchten einen Teppich in Auftrag geben? Schwebt Ihnen ein bestimmtes Motiv vor?«
»Ja! Ein Mann, der einen Teller gebratene Leber ißt!« Roemer seufzte laut auf. »Corinna, Professor Willbreit hat mir die Wahrheit gesagt. Es war ein Volltreffer! Nun bin ich hier und weiß nicht mehr, was ich tun soll.«
5
Es gibt Dinge und Gefühle, für die man keinen Namen finden kann, keine zutreffende Bezeichnung. Kaum zu glauben, denkt man. Hat nicht alles seinen Namen? Trägt nicht alles ein Etikett? Gibt es im Leben tatsächlich Namenloses? Und dann steht man einem Mann gegenüber, der am Ende der Hoffnung ist. Er hat Angst, könnte man sagen. Aber das Wort Angst drückt seine Verzweiflung nicht aus, läßt zu wenig ahnen von dem Abgrund des Entsetzens. Ist es Todesangst? Todespanik? Auch das ist zu wenig! Es gibt keinen Namen für dieses ins Unendliche reichende Gefühl. Es steht über allen Begriffen.
Roemer tappte in der Werkstatt umher wie ein Riesenbär, sah keinen anderen Platz als Corinnas Arbeitsschemel vor dem Knüpfrahmen und ließ sich schwer auf ihm nieder. Der Schemel verschwand völlig unter seinem massigen Körper; es sah aus, als hocke Roemer frei in der Luft.
»So ist das nun«, sagte er. »Beschissen.«
»Ja –« Corinna ging in den Ausstellungsraum, um für einen Augenblick allein zu sein. Als sie zurückkam in die Werkstatt, hatte Roemer seinen Schlips heruntergezogen und den Hemdkragen geöffnet. »Was hat Professor Willbreit Ihnen geraten, Herr Roemer?«
»Operation. Chancen fünfzig zu fünfzig.«
»Sie sollten sie wahrnehmen.«
Roemer schüttelte den Kopf. »Als mein Freund Thomas Willbreit mir von Ihnen erzählte, habe ich dumme Witze gerissen. Dann zeigte uns Dr. Hambach die letzten Röntgenbilder Ihrer Frau Mutter, und auch da habe ich noch gedacht: Hier ist etwas faul. Die Kleine – das waren Sie – hat die Sache mit dem Röntgen irgendwie hingefummelt. Warum tut sie das? Aus psychologischen Gründen, um ihre Mutter durch diese Lügen aufzurichten, so lange, bis es nicht mehr geht?«
»Meine Mutter ist fast geheilt … fast!« sagte Corinna steif.
»Das weiß ich jetzt. Wäre ich sonst gekommen? Von Ihren Fingern geht eine Energie aus, eine Strahlung, die kranke Zellen vernichten kann. Ich habe noch nie davon gehört, und hätte mir das früher jemand erzählt, ich hätte an die Stirn getippt. Verrückteres, Unmöglicheres kann es kaum geben. Aber jetzt glaube ich daran … Corinna, Sie sehen mich nur an und sagen nichts! Wirklich, ich glaube an Ihre Hände.«
»Aber ich kann Ihnen nicht helfen …«
»Sagen Sie das nicht! Bitte, sagen Sie so etwas nicht! Wer weiß denn, was in Ihnen steckt?«
»Niemand. Ich selbst nicht. Manchmal ist es unheimlich. Ich streiche über eine welke Blume, und sie richtet sich wieder auf. Einmal sah ich einen goldenen Ring auf dem Zimmertisch liegen, ich hatte ihn noch nie
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