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Die strahlenden Hände

Die strahlenden Hände

Titel: Die strahlenden Hände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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immer an einem Band zwischen ihren Brüsten getragen. Tag und Nacht … Um ehrlich zu sein: Wenn sie sich liebten, hatte das Ding ihn immer behindert, weil er Angst hatte, bei den leidenschaftlichen Umarmungen könnte das Band reißen oder das Holz brechen. Jedenfalls war Ljudmila in all den Jahren nicht krank geworden. Nicht mal einen Schnupfen oder eine Heiserkeit hatte sie bekommen. Wenn ein sogenanntes Grippewetter kam – Dr. Hambach sagte voll Eigenspott: »Das ist das Wetter, wo die Ärzte am Fenster stehen und sich die Hände reiben!« – küßte Ljudmila die Ikone; vor allem jene Stelle, wo deutlich Assanurians Zähne in dem Holz abgedrückt waren, und Doerinck wußte: Sie bleibt gesund, und wenn eine Epidemie über das Land zieht … sie bleibt gesund!
    Bis eines Tages die Ikone zerbrach.
    Er sah diesen Tag noch vor sich, als sei er gestern gewesen. Im Winter war's, an einem wunderschönen, klaren, sonnigen, kalten Schneetag mit einem unendlich reinen blauen Himmel. Sie waren mit Corinna, die damals Studentin der Medizin in Münster war, hinausgefahren zum Risauer Berg, einem 114 Meter hohen Hügel, Überbleibsel aus der Eiszeit, die man Endmoränen nannte. Bei einem solchen Schneewetter bot der Hügel ein wunderbares Rodelgelände. Doerinck besaß einen großen lenkbaren Schlitten; mit ihm fuhren sie, jauchzend wie die Kinder, immer wieder die Hänge hinunter. Mal lenkte Doerinck, mal Ljudmila, mal Corinna. Und da geschah es: Corinna saß an der Lenkung, als der Schlitten in voller Fahrt umkippte, weil sie einem Baumstumpf, den sie vor sich heranrasen sah, ausweichen wollte und in letzter Sekunde das Steuer herumriß. In hohem Bogen wurden sie in den tiefen, weichen Schnee geschleudert. Es passierte ihnen nichts, sie prusteten nur und lachten. Bis Ljudmila an ihre Brust griff, weite, entsetzte Augen bekam und wie sterbend stammelte: »Die Ikone ist zerbrochen …«
    So war es. Assanurians großes Erbe war mittendurch gespalten. Der Riß ging vor allem durch den tiefsten und deutlichsten Zahnabdruck.
    Doerinck selbst klebte die Ikone damals zusammen, mit einem Leim, der fest wie Eisen hielt. Aber es war nur eine optische Reparatur. Im nächsten Frühjahr bekam Ljudmila zum erstenmal eine Bronchitis, die Dr. Hambach behandelte. Corinna griff nicht ein, denn es war die Zeit, wo sie in Münster in ständigem Streit mit ihren Medizinprofessoren lag. Nur, als der hartnäckige Husten nicht wegging, umarmte Corinna jeden Abend als Gutenachtgruß ihre Mutter und strich ihr dabei heimlich über den Rücken. Nach vier Tagen hustete sie nicht mehr und fühlte sich pudelwohl. Corinna sprach in all den Jahren nie darüber – erst vor ein paar Tagen hatte sie ihrem Vater alles berichtet, was in der Vergangenheit unbemerkt geschehen war.
    Die geheimnisvolle Kraft der von Assanurian im Todeskampf zerbissenen Ikone war mit dem Bruch erloschen. Trotzdem trug Ljudmila sie noch immer an einer Schnur zwischen den Brüsten. »Es bleibt ein Stück meines Vaters«, sagte sie zu ihrem Mann. »Wenn ich mal tot bin, laßt es mir um den Hals …«
    Voll solcher Erinnerungen, wanderte Doerinck durch die Felder nach Hause. Er machte sogar einige Umwege, rastete an einem Bach, beobachtete die Forellen im strömenden Wasser und die darüber schwirrenden grünen oder blauschillernden Libellen. In einem Halbkreis näherte er sich wieder Hellenbrand und zögerte, als er von weitem sein schönes Haus zwischen den Blumen und Büschen liegen sah.
    Ljudmila war nicht im Haus. Er rief ein paarmal und fand sie schließlich im Garten. Sie saß auf der weißen Holzbank in dem offenen Kreis von hohen Sonnenblumen, die jedes Jahr für sie gepflanzt wurden im Gedenken an das ferne, nie vergessene Rußland.
    »Ist er fort?« fragte sie, als Doerinck sich neben sie setzte. Jetzt endlich hatte er Geschmack gefunden, sich einen Zigarillo anzustecken. Er drehte die längliche Blechschachtel zwischen den Fingern.
    »Ja. Er ist wieder abgefahren.«
    »Hat er Cora gesprochen?«
    »Natürlich!«
    »Und es hat Krach gegeben?«
    »Es hielt sich in Grenzen. Er ist wütend davongerast. Das war ja zu erwarten. Cora hat ihn kalt abblitzen lassen.« Doerinck steckte den Zigarillo an und machte zwei tiefe Züge. »Mit Argumenten ist da nichts zu machen. Man muß die Tatsachen hinnehmen, ohne nach Erklärungen zu suchen. Das ist schwer für einen nüchtern denkenden Menschen, fast unmöglich. Man hat sich daran gewöhnt, alles erklären zu können. Alles wird

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