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Die strahlenden Hände

Die strahlenden Hände

Titel: Die strahlenden Hände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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schnürte wieder ihre große Skizzenmappe auf und breitete sie aus. »Wie schön!« rief Luise Herbrandt sofort, kaum, daß sie etwas gesehen hatte. »Griechische Motive!«
    »Die Odyssee.«
    »Habe ich sofort erkannt!«
    Die beiden Damen beugten sich über die Zeichnungen. Corinna stand dahinter, und unbemerkt von ihnen streckte sie die Hände aus, bog die Handflächen etwas und strich in der Luft über die untere Wirbelsäule von Luise Herbrandt. In ihren Fingerspitzen spürte sie das erwartete Kribbeln, den Strahlenkontakt mit dem Gegenüber.
    Ein großes inneres Glück und eine herrliche Ruhe überkam sie. Nach Dr. Roemers Weggang war sie zu ihrem Vater gefahren, völlig aufgelöst, und hatte gestottert: »Es ist vorbei, Papuschka! Meine Hände sind tot. Sie haben bei Dr. Roemer versagt. Das gibt es doch nicht! Ich habe meine Strahlen verloren.« Und Doerinck hatte aus voller Brust geantwortet: »Gott sei Dank! Hoffentlich! Das erspart uns vieles …« Nun war alles wieder wie vorher: Sie spürte die Kraft, die von ihr zu Luise Herbrandt hinüberfloß. Sie wußte: Hier baut sich wieder etwas Unerklärbares auf. Ihre Hände strahlten.
    Auch Luise wurde es warm. Sie zog ihre Jacke aus. »Ist das heute ein schöner Tag! So einen Sommer haben wir lange nicht mehr gehabt.« Dann beugte sie sich erneut über die Skizzen, und Corinna nahm ihr Streicheln wieder auf. Nur für fünf Minuten, länger nicht. Es war, als liefe in ihr eine Uhr ab.
    Hildegard Benkes Mundwinkel zuckten noch immer. Genau wie Luise überlegte sie krampfhaft, wie man das Gespräch auf eine Behandlung bringen könnte. Der erste gute Ansatz, der Hinweis auf die Ärzte, war verpufft. Bei der Betrachtung von Odysseus und seinen Abenteuern konnte man schlecht auf Ischias und Mundzucken kommen. Frau Benke entschloß sich, auf einen gleitenden Übergang zu verzichten.
    »Ist es Ihnen aufgefallen, Fräulein Doerinck«, sagte sie ganz direkt, »wie mein Mund zuckt?«
    »Ja. Aber ich wollte nicht fragen.« Corinna sah sie prüfend an. Die Mundwinkel zitterten, als würden sie von kleinen elektrischen Schlägen durchzogen. »Eine neurogene Erkrankung.«
    »Die Nerven! Was ich schon an Vitamin-B-Präparaten geschluckt habe! Unheimlich. Es kommt immer wieder.«
    »Lassen Sie mich mal sehen«, sagte Corinna. Sie umfaßte Hildegard Benkes Kopf, den diese bereitwillig vorstreckte, und fuhr mit den Fingerspitzen über die Lippen, ohne sie zu berühren. Wieder spürte sie den Kontakt, das Ziehen in den Fingerspitzen. Ein paarmal strich sie mit der ganzen Hand über Frau Benkes Gesicht. Hildegard schloß die Augen, ihr Gesicht löste und entkrampfte sich, geradezu beseligt sah sie aus, und sie sagte leise: »Das tut gut. Wie unter Rotlicht ist das, nur viel milder. Das ist schön …«
    Atemlos sah Luise Herbrandt zu. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, ihre zusammengelegten Hände wurden schweißnaß. Sie wartete, bis Corinna ihre streichelnde Hand zurückzog, und sagte dann mit hohler Stimme:
    »Ich … ich kriege mein Ischias nicht los. Können Sie bei mir auch …«
    »Das habe ich schon.« Corinna ließ die Hände sinken, ging zu einem Nebentisch, holte eine Zigarette aus der Packung und rauchte sie gierig. Es geht wieder, dachte sie glücklich. Meine Hände haben mich nicht verraten! Warum aber versagten sie bei Dr. Roemer?
    »Sie haben schon …?« stammelte Luise Herbrandt. »Wann denn?«
    »Als Sie die Skizzen betrachteten.«
    »Ich habe nichts gemerkt.«
    »Aber ich. Und das ist wichtig …«
    Eine Stunde später fuhren die Damen zurück nach Münster. Ihre Teppiche hatten sie bestellt, aber viel wichtiger war der Jubel, der in ihren Seelen lag. »Es war ein tolles Gefühl!« sagte Hildegard Benke. »Toller als mit einem Mann! Noch vier- oder fünfmal sollen wir kommen, sagt sie, dann sei alles vorbei. Glaubst du das, Luise?«
    »Ja. Ich fühle mich jetzt schon wohler.«
    »Das … das ist ja ein Wunder … dieses Mädchen!«
    In den nächsten drei Tagen schlich die Kunde von den strahlenden Händen durch viele Häuser von Münster und der näheren Umgebung. Es war wie ein Gas, das sich ausbreitete.
    Das Schicksal der Corinna Doerinck nahm seinen Lauf …

6
    Auf dem Umweg über den Ärztestammtisch erfuhr Willbreit, was er im geheimen immer befürchtet hatte.
    Münster besaß als Universitätsstadt eine Reihe exklusiver Stammtische, besucht von den Alten Herren der studentischen Verbindungen und feudalen Corps, die außerhalb ihrer Corpshäuser und Kneipen

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