Die strahlenden Hände
unerklärbare Kräfte hat? Warum so ein Entsetzen? Man sollte doch glücklich sein darüber.«
»Deine Nerven möcht ich haben!« Hupp war völlig außer Fassung. »In einer Woche wird Hellenbrand zum Wallfahrtsort, wenn andere Zeitungen und Zeitschriften das übernehmen. Pilgerzüge werden zu Corinna Doerinck ziehen, ein Rummelplatz der Hysterie wird das hier werden. Und am Ende wird die ganze Welt über Hellenbrand lachen. O Gott!«
Das Telefon klingelte. Hupp nickte und bekam einen steifen Rücken. »Der Schulrat! Wetten?«
Es war nicht der Schulrat. Es war der Bürgermeister. Sangesbruder und Kegelbruder, Mitglied im Kirchenvorstand.
»Ist Stefan bei dir?« fragte er ohne Einleitung. Seine Stimme vibrierte deutlich.
»Ja.«
»Gib ihn mir.«
Hupp hielt Doerinck das Telefon hin. »Peter«, sagte er. »Ich nehme an, im Rathaus brennt es schon.«
Doerinck nahm den Hörer und holte tief Luft. »Ja, Peter. Hier Stefan!« sagte er laut. »Es geht um den Artikel heute in der Zeitung. Wegen Corinna. Ich versuche Ferdinand gerade zu erklären, daß ich da gar nichts tun kann.«
»Komm rüber!« sagte der Bürgermeister kurz angebunden. »Ich habe auch schon Corinna bestellt. Das ist jetzt nicht mehr eure Privatangelegenheit, das geht nun die ganze Stadt an. Vor fünf Minuten ist ein Anruf gekommen aufgrund des Artikels. Das Fernsehen will nach Hellenbrand kommen. Stefan, das wird für uns eine Schweinerei!«
7
Doerinck hatte einen kürzeren Weg von der Schule bis zum Rathaus als seine Tochter; er erreichte es einige Minuten vor Corinna, die mit ihrem Kleinwagen fuhr. Peter Beiler, der Bürgermeister, sonst ein dicklicher, rotgesichtiger, gemütlicher Mensch, der bei fortgeschrittenen Stammtischabenden in der Wirtschaft ›Westfalenwappen‹ unermüdlich war im Vortragen von Bonifazius-Kiesewetter-Versen (man hatte den Verdacht, daß er immer neue dazu dichtete), hatte alle Jovialität verloren, als Doerinck in das Amtszimmer trat. Er empfing den Freund und Skatbruder sofort mit einem Vorwurf:
»Jetzt dampft die Scheiße. So was bei uns! Seid ihr denn total verrückt geworden?«
»Was heißt ›ihr‹?« Doerinck angelte sich einen Stuhl und setzte sich ans Fenster. Vor dem Sondereingang zum Standesamt standen eine Braut in hellblauem Kleid, ein feierlicher Bräutigam, der unruhig mit dem Kopf kreiste – wohl weil ihm der Kragen zu eng war – und einige Verwandte, die sich auf das festliche Mittagessen freuten, das der Trauung folgen würde. In der Schule hatte der Kollege Zimmerling die Klasse von Doerinck nach der Pause übernommen und beschäftigte sie mit einem Aufsatz, Thema: Was meine Mutter im Sommer macht. »Ich habe damit nichts zu tun!«
»Deine Tochter, Stefan!« rief Peter Beiler laut.
»Ich muß wiederholen, was ich schon Ferdinand fragte: Gibt es wieder Sippenhaft?«
»Laß bitte solche abseitigen Reden!« Beiler war konsterniert. Unbewußt – woher sollte er es auch wissen? – hatte Doerinck an die Vergangenheit gerührt. Julius Beiler, Peters Vater, war 1933 Ortsgruppenleiter der NSDAP von Hellenbrand geworden, und unter dessen Herrschaft war es geschehen, daß man zwei sozialdemokratische Bürger und den einzigen Kommunisten im Ort, den Fuhrknecht Josef Hillegan, über Nacht in ein ›Umerziehungslager‹ gebracht und der Familie eines jeden nahegelegt hatte, Hellenbrand zu verlassen. Sie taten es klaglos und verstreuten sich in alle Winde – seitdem war die Familie Beiler gegen das Wort Sippenhaft allergisch. »Du hast diesen Hokuspokus geduldet!«
»Der Hokuspokus hat bisher vierzig Menschen geholfen, wie mir Corinna gestand.«
»Vierzig?« Genau wie vorhin Rektor Hupp riß auch Bürgermeister Beiler die Augen auf. »Wenn das publik wird!«
»Mir ist es überhaupt ein Rätsel, wie das in die Presse kommen konnte.«
»Ja, glaubst du denn, so etwas bleibt hinter geschlossenen Gardinen?« Beiler ging unruhig in dem großen Amtszimmer hin und her. »Na warte, wenn Corinna kommt! Die nehme ich mir zur Brust!«
»Sie ist gleich da. Gerade fährt sie auf den Parkplatz.« Doerinck sah Peter Beiler nachdenklich an. »Wie lange kennen wir uns, Peter?«
»Ich glaube, rund sechsundzwanzig Jahre. Da bist du nach Hellenbrand gekommen. Ich war damals Referendar in Münster.«
»Paß auf, daß nicht sechsundzwanzig Jahre in die Brüche gehen, Peter.«
»Ich habe den Ruf meiner Stadt zu verteidigen, Stefan.«
»Und ich die Ehre meiner Tochter. Das sind zwei gute Standpunkte.«
»Von denen
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