Die Strasse des Horus
sich über ein hohes Kinderbett beugte, in dem ein Körbchen stand. Sonst war niemand im Raum, und das einzige Möbelstück war ein Stuhl ohne Lehnen.
Sie musste gespürt haben, dass er da stand, denn auf einmal hörte sie auf zu singen und blickte ruckartig hoch, erkannte ihn jedoch anfangs nicht. Ihr Gesicht war blass, die Lider geschwollen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen wirkten, als hätte sie ein Schreiber mit Tusche gemalt. Ihre Halsknochen standen vor, ihre Arme waren abgemagert. Ahmose konnte wenig von ihrem Leib sehen, da sich ihr Hemdkleid bauschte, als sie sich über das Körbchen beugte. Ihr Götter, sie stirbt auch, dachte er, und auf einmal überrollte ihn eine heiße Welle, Liebe vermischt mit Angst. Sie starrte ihn an, als sie sich langsam aufrichtete, und ganz kurz konnte er das Weiße ihrer Augen sehen, als sie merkte, wer es war.
»Ahmose«, sagte sie erstickt, und dann umrundete sie das Körbchen und stürzte mit geballten Fäusten auf ihn zu. Sie warf sich auf ihn und fing an, ihn zu schlagen und seinen Namen zu schreien. Er schaffte es, den Arm um sie zu legen und sie locker zu halten, wich ihren Schlägen jedoch nicht aus, bis sie auf einmal an ihm erschlaffte, den Kopf an seine Brust legte, sich anlehnte und rau schluchzte. »Ich habe dich gehasst, ich bin so böse auf dich gewesen, du hast mich allein gelassen, ganz allein, und ich ertrage es nicht, ich ertrage nicht noch mehr«, plapperte, jammerte sie, und ihre Fingernägel bohrten sich in seine Haut, ihre Stirn, die auf seinen Rippen lag, war fieberheiß. Er drückte sie an sich und wiegte sie hin und her, war bestürzt über ihre Magerkeit und erschrocken, dass sie so völlig die Fassung verloren hatte.
Lange standen sie eng umschlungen, bis ihr Wut-und Schmerzausbruch verebbte und ihre Schluchzer nur noch stoßweise kamen, und da schob er sie sanft von sich. »Ich habe jeden Morgen für die Aufseher und Ratgeber eine gelassene Miene aufgesetzt«, sagte sie. »Das ist die schwierigste Aufgabe meines Lebens gewesen. Ahmose, ich glaube, ich werde verrückt. Was tust du hier?«
»Mutter hat mir einen Brief geschickt, Liebste«, sagte er. »Ich bin zerknirscht und besorgt gewesen und musste einfach kommen. Und jetzt zeige mir meine Tochter.« Statt einer Antwort ergriff sie seine Hand und führte ihn zum Körbchen. Dabei wirkte sie beinahe schüchtern. Er staunte, dass ihr heftiger Ausbruch Sat-Kamose nicht aufgeweckt hatte. Jedes gesunde Kleinkind hätte bei der Lautstärke losgebrüllt. Doch als er in den Korb spähte, merkte er sofort, dass diese Prinzessin zu schwach war, um noch auf Schreck zu reagieren.
Sie lag auf dem Rücken, die Arme schlaff zu beiden Seiten, die schwarzen Augen halb geschlossen. Sie atmete schnell. Ahmose zog das kleine Laken ab, mit dem sie zugedeckt war, und musste einen mitleidigen Aufschrei unterdrücken, als er den deutlich sichtbaren Brustkorb und die winzigen, vorstehenden Hüftknochen sah. »Sie sieht verhungert aus«, murmelte er.
»Sie verhungert«, antwortete Aahmes-nofretari. »Sie trinkt gierig, aber dann erbricht sie alles, zieht die kleinen Knie an und schreit. Ach, Ahmose, ihr Leiden zerreißt mir das Herz. Ich würde alles tun, selbst mein eigenes Blut vergießen, wenn es nur helfen würde! Die Ärzte sind machtlos. Ich habe vier befragt. Unser eigener königlicher Arzt will ihr Mohnsaft geben, aber ich habe nein gesagt. Er könnte ihr noch mehr schaden. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«
Ahmose hob den Körper hoch, der leichter war als das Pektoral, das er auf der Brust trug. Sat-Kamose wimmerte ein wenig, wandte ihm den Kopf zu, und in dem Augenblick, als ihr weicher Haarschopf seine Brust berührte, verliebte er sich in sie. Er ging zu dem Stuhl, setzte sich, drückte sie an sich und wiegte sie behutsam. Eine blasse Faust wie eine Blütenknospe kroch hoch, fand seine breite Brust und blieb dort so willig liegen, dass er fast aufgeschrien hätte.
Doch Aahmes-nofretari war neben ihm auf den Fußboden gesunken, hielt seine Waden umfasst und drückte den Kopf an seinen Oberschenkel. Sie fröstelte noch immer, und er wagte nicht, ihr sein frisches Herzeleid auch noch aufzubürden. »Verzeih mir meine Bitterkeit und mein Schweigen«, flüsterte sie. »Ich bin grausam gewesen, und es tut mir Leid.«
»Nein«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich bin es, der sich wie ein ungehobelter Klotz benommen hat. Ich liebe dich, meine Gemahlin, und ich liebe meine Tochter.«
So saßen sie
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