Die Straße in die Stadt
kein Licht, und das Wasser mußte man am Brunnen holen. Ich schrieb meiner Mutter, ich wolle nicht mehr bei der Tante wohnen, und sie solle mich holen kommen. Sie schrieb nicht gern, und deshalb antwortete sie mir nicht brieflich, sondern ließ mir von einem Mann, der Kohlen verkaufte, ausrichten, ich solle Geduld haben und bleiben, wo ich sei, denn es gebe keine andere Lösung.
Also blieb ich. Ich würde nicht vor Februar heiraten, und jetzt war erst November. Seit ich meiner Mutter gesagt hatte, daß ich ein Kind bekam, war mein Leben so seltsam geworden. Seitdem hatte ich mich immer verstecken müssen, wie etwas Beschämendes, das niemand sehen darf. Ich dachte an mein früheres Leben, an die Stadt, wo ich jeden Tag hinging, an die Straße, die in die Stadt führte und die ich jahrelang zu jeder Jahreszeit benutzt hatte. Ich erinnerte mich genau an jene Straße, die Steinhaufen, die Hecken, den Fluß, auf den man plötzlich stieß, und die Brücke voller Menschen, die auf den Marktplatz führte. In der Stadt kaufte man gesalzene Mandeln, Eis, man betrachtete die Schaufenster, da war der Nini, der aus der Fabrik kam, da war Antonietta, die ihren Verkäufer ausschimpfte, da war Azalea, die auf ihren Geliebten wartete und vielleicht ins Le Lune mit ihm ging. Ich aber war weit weg von der Stadt, vom Le Lune, vom Nini, und dachte voll Staunen an diese Dinge. Ich dachte an Giulio, der in der Stadt studierte, ohne mir zu schreiben und ohne mich zu besuchen, als erinnerte er sich gar nicht an mich und wüßte nicht, daß er mich heiraten mußte. Ich dachte, daß ich ihn nicht mehr gesehen hatte, seit er erfahren hatte, daß wir ein Kind bekommen würden. Was sagte er dazu? War er froh oder war er nicht froh, daß wir heiraten mußten?
In der Küche der Tante sitzend, verbrachte ich die Tage, immer mit denselben Gedanken, die Feuerzange in der Hand, die Katze auf den Knien, um etwas Wärme zu spüren, und einen Wollschal um die Schultern. Ab und zu kamen Frauen, um Kleider anzuprobieren. Die Tante, kniend, den Mund voller Stecknadeln, stritt wegen der Form des Ausschnittes oder der Ärmel und sagte, als die Contessa noch lebte, habe sie jeden Tag in die Villa gehen müssen, um für sie zu arbeiten. Die Contessa war schon lange gestorben und die Villa verkauft worden, und die Tante weinte immer, wenn sie davon sprach.
»Es war ein Genuß, diese Seide, diese Spitzen zwischen den Fingern zu fühlen«, sagte die Tante. »Die arme Contessa mochte mich so gern. Sie sagte: ›Elide, meine Liebe, solange ich da bin, soll es dir an nichts fehlen.‹«
Doch sie war im Elend gestorben, weil die Kinder und der Ehemann alles verpraßt hatten.
Die Frauen sahen mich neugierig an, und die Tante erzählte, daß sie mich aus Mitleid aufgenommen habe, denn meine Familie hätte mich vor die Tür gesetzt wegen des Unglücks, das mir zugestoßen sei. Die eine oder andere wollte mir eine Predigt halten, doch die Tante sagte kurz angebunden:
»Was gewesen ist, ist gewesen, und wie es weitergeht, weiß man nicht. Manchmal glaubt man, etwas falsch zu machen, und dann stellt sich heraus, daß es gut war. Wenn man sie so sieht, wirkt sie dumm, aber sie ist schlau, denn sie hat sich einen reichen, gebildeten Jungen genommen, der sie am Ende doch noch heiratet. Dumm ist vielmehr meine Tochter, die seit acht Jahren verlobt ist und es nicht schafft, sich heiraten zu lassen. Sie behauptet, es sei meine Schuld, weil ich ihr keine Aussteuer gebe. Sollen die ihr doch die Aussteuer kaufen, denen geht’s besser als mir.«
»Eines Tages komme ich auch schwanger nach Hause, dann bist du zufrieden«, rief meine Cousine ihr zu.
»Probier’s nur, und dann sehen wir weiter«, sagte die Tante zu ihr, »ich reiß dir alle Zähne aus, wenn du es noch mal sagst. Nein, in meinem Haus hat man so etwas nie gesehen. Von neun Kindern sind fünf Mädchen, aber was die Ernsthaftigkeit angeht, hat nie jemand etwas aussetzen können, weil ich von klein auf gut auf sie aufgepaßt habe. Wiederhol nur, was du gesagt hast, du Hexe«, sagte sie zu Santa. Santa prustete los, und die Frauen lachten mit ihr, auch die Tante lachte und hörte gar nicht mehr auf.
Die Tante war die Schwester meines Vaters. Obwohl sie viele Jahre nicht mehr in unserem Dorf gewesen war und ich sie vorher fast noch nie gesehen hatte, wußte sie über alle Bescheid und sprach von allen, als hätte sie sie immer um sich gehabt. Sie schimpfte über Azalea und behauptete, daß sie zu hochnäsig
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