Die Straße nach Eden - The Other Eden
meine Mutter mir einst vorgesungen hatte.
Dans les monts de Cuscione la petite a vu le jour Et je fais dodelinette pour que dorme mon amour La bercait avec tendresse lui prédit sa destinée…
Während ich sang, fragte ich mich zum ersten Mal, woher dieses Lied eigentlich stammte. War es von meinen geheimnisumwitterten Verwandten, die einst irgendwo in Frankreich Seite an Seite mit einer Familie gelebt hatten, mit der sie eine Blutfehde verband, von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden? Die Worte verklangen, an den Rest des Textes konnte ich mich nicht mehr erinnern. Vielleicht hatte auch meine Mutter ihn nicht gekannt, und mir war ohnehin nicht wohl dabei, einem Kind, das nicht mein eigenes war, einem mutterlosen Kind das Lied meiner Mutter vorzusingen.
Ich versuchte die morbiden Gedanken, die sich meiner zu bemächtigen drohten, zu verdrängen, indem ich mir mahnend sagte, dass sowohl meine Mutter als auch meine Tante impulsive, unbedachte Mädchen gewesen waren, die irgendetwas
getan hatten, was ihrer Familie außerordentlich missfallen hatte. So etwas kam in den so genannten guten Familien häufiger vor, und ich war sicher, das Geheimnis zu gegebener Zeit lüften zu können. Und was das Haus auf dem Hügel anging, so wirkte es nicht unheimlicher als jedes andere alte verlassene Haus, und wenn sich wirklich jemand dort eingenistet hatte, dann verhielt es sich vermutlich so, wie Alexander gesagt hatte: Ein umherziehender Landstreicher nutzte es als Unterschlupf.
Dann wanderten meine Gedanken zu Dorian Ducoeur, und dabei stellte ich fest, dass jegliche Logik versagte. Irgendetwas stimmte mit diesem Mann nicht, das hatten nicht nur Alexander und ich, sondern auch Tascha gespürt. Mir fiel ein, dass sie gesagt hatte, er hätte mich in ihrem Traum angeschaut, und wieder schien eine eisige Hand nach mir zu greifen.
Dann blickte ich auf die schlafende Tascha hinab und fasste zwei Entschlüsse. Zuerst würde ich auf Alexanders Vorschlag eingehen, mich gemeinsam mit ihm noch einmal in dem Haus auf dem Hügel umsehen und gegebenenfalls den mysteriösen Bewohner aufstöbern und zur Rede stellen. Und dann würde ich die in Vergessenheit geratene Tradition meiner Großeltern wieder aufleben lassen und Gäste nach Eden einladen - insbesondere Dorian Ducoeur. Ich würde schon noch herausbekommen, welches Geheimnis ihn umgab. Mit einem zufriedenen Seufzer zog ich die Decke über Tascha und mich und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als ich erwachte, war die Sonne schon über den dunstumwaberten Baumkronen aufgegangen. Der Platz neben mir war leer. Vor Schreck stockte mir der Atem, doch dann hörte ich unten im Haus Taschas fröhliches Lachen und ließ mich in den goldenen Lichtkreis zurücksinken, den die
Sonnenstrahlen auf mein Kopfkissen malten. Eine Zeitlang lag ich still da, genoss die Wärme auf meinem Gesicht und lauschte den Geräuschen der Welt draußen. Dieses eine Mal störte mich die zunehmende Hitze nicht.
Doch dann flatterte eine Erinnerung in die friedliche Leere in meinem Kopf und streute dort ihre giftigen Samen aus. Der Name, den Tascha letzte Nacht im Traum geflüstert hatte, hallte in meinen Ohren wider: Dorian. Auf irgendeine unerklärliche Weise drängte er sich in unser aller Leben, und obwohl ich letzte Nacht noch felsenfest entschlossen gewesen war, das Geheimnis um seine Person zu lüften, kamen mir bei Tageslicht erneut Bedenken.
»Du bist ja wach«, riss mich Alexanders Stimme aus meinen Grübeleien.
Ich richtete mich auf und stellte die Füße auf den Boden. Er stand lächelnd in der Tür. »Warum hast du mich nicht früher geweckt?«
»Tascha hat mir erzählt, dass du ganze Nacht bei ihr gewacht hast. Da schien es mir nur recht und billig, dir etwas Ruhe zu gönnen, zumal du sie anscheinend geheilt hast.«
»Also geht es ihr besser?«
»Viel besser - das hat sie dir zu verdanken.«
»Ich habe doch gar nichts getan.«
Er setzte sich zu mir auf die Bettkante und nahm meine Hand. »Manchmal hilft liebevolle Fürsorge mehr als jede Medizin.«
»Wie dem auch sei, Hauptsache, sie fühlt sich wieder wohl. Warum, ist zweitrangig.«
Einen Moment lang herrschte verlegenes Schweigen zwischen uns, da uns bewusst wurde, dass wir seit der Nacht des Regensturms zum ersten Mal miteinander allein waren. Dann sagte Alexander leise: »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich dich in den letzten beiden Tagen so vernachlässigt habe.«
»Du hast dir Sorgen um Tascha
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