Die Straße nach Eden - The Other Eden
so ein Labyrinth, so verwirrend es auch erscheinen mag, ist immer logisch aufgebaut, denn es ist von Menschenhand geschaffen worden. Es folgt einem bestimmten Muster … fast so wie Musik, würde ich sagen. Hier ist dieses Muster ganz einfach. Wir biegen zweimal rechts und einmal links ab, und zwar zweimal nacheinander, dann kehren wir die Reihenfolge um. Tun wir das, führen die Gänge, in die wir geraten, dann nach Osten, also müssen wir einmal links und einmal rechts abbiegen. Wenn wir eine Lichtung erreichen, fängt diese Reihenfolge von vorne an. Ich glaube, die Lichtungen weisen uns den Weg zur Mitte dieses Irrgartens. Verstehst du?«
Theoretisch durchschaute ich das System zwar, doch mein Kopf schwirrte von alldem, was in den letzten Minuten auf mich eingedrungen war, daher war ich dankbar, ihm die Führung überlassen zu können.
Wir bogen um eine Ecke und fanden uns in einem zweiten Garten mit einer Statue wieder, einem schlanken, geschmeidigen Mädchen, das eine Violine in der Hand hielt und in das Becken eines weiteren ausgetrockneten Springbrunnens hinabblickte.
»Wer auch immer dieses Labyrinth angelegt hat, hatte
eine ausgeprägte Vorliebe für den Neoklassizismus«, stellte Alexander trocken fest.
Ich legte den Kopf zur Seite und betrachtete das ernste Gesicht des steinernen Mädchens. »Sie ist wunderschön, findest du nicht?«
Alexander lächelte. »Sie sieht dir sehr ähnlich.«
Ich sagte nichts darauf, doch in meinem Inneren breitete sich eine wohlige Wärme aus.
Im nächsten Garten stießen wir auf die Statue einer mit Bogen, Pfeilen und Jagdhorn bewehrten Diana. Das Horn war hohl; einst war ihm nicht Musik, sondern Wasser entströmt, das sich in das Becken zu den Füßen der Göttin ergossen hatte. Während ich sie ansah, begann sich ein Muster in meinem Kopf zu formen, und je länger ich darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien es mir.
Doch als wir endlich das Herz des Labyrinths erreichten, brach meine Theorie wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Lichtung, auf die wir gelangten, war eigentlich gar kein Garten, sondern lediglich eine rechteckige struppige Rasenfläche, in deren Mitte ein umgestürzter Baumstamm lag. Der schwarze Streifen auf der morschen Rinde ließ darauf schließen, dass er vom Blitz getroffen worden war.
»Verdammt«, fluchte ich verhalten.
»Was ist denn?« Alexander sah mich erstaunt an.
»Ich dachte, ich hätte das System durchschaut. Bis jetzt.«
»Wie meinst du das?«
»Auf jeder Lichtung dieses Labyrinths steht eine Statue, die ein Instrument in der Hand hält. Die Fontaines waren eine sehr musikalische Familie. Mir kam es so vor, als würde jeder Garten in einen etwas größeren führen und als sollten die darin aufgestellten Figuren eine Verbindung mit den Ducoeurs symbolisieren. Dann müssten die Gärten auf der anderen Seite thematisch irgendwie mit den Ducoeurs
verknüpft sein. Aber das hier…«, ich deutete auf den angekohlten Stamm, »…widerlegt leider diese Theorie.«
»Denk daran, dass das zu der Zeit, als dieses Haus erbaut wurde, ein lebendiger, gesunder Baum war. Ein Apfelbaum, wie es aussieht.«
»Er verrät uns aber nicht gerade viel über unsere Spukträume.«
Alexander überlegte kurz, dann gab er zurück: »Vielleicht doch. Was ist denn ein Spuk? Eine unglückliche, ruhelose Seele, die keinen Frieden findet. Vielleicht möchte deine Tante uns mitteilen, was ihr zugestoßen ist, und dieser Ort hat irgendwie damit zu tun.«
Wir standen eine Weile auf der friedlichen Lichtung und dachten über diese Möglichkeit nach. Sonnenlicht fiel durch die Ritzen in der Hecke und malte helle Flecken auf den Boden.
»Komm.« Alexander nahm erneut meine Hand. »Es wird spät.«
»Da ist noch etwas, was ich dir zeigen möchte, bevor wir gehen.«
Wir gingen durch das Labyrinth zum Rosengarten vor dem Ballsaal zurück. Für den Fall, dass die Tür erneut verschlossen sein sollte, zückte ich meinen Schlüssel, aber diesmal ließ sie sich mühelos öffnen. Wir stiegen die Wendeltreppe empor. Ich wappnete mich innerlich für alles, was wir oben im Turm vorfinden würden, aber was ich sah, als ich in das Turmzimmer spähte, traf mich so unverhofft, dass ich mich am Türrahmen festhalten musste.
Der Raum war leer. Bis auf den kleinen Tisch mit dem zersprungenen Spiegel waren sämtliche Möbelstücke verschwunden. Die Bodendielen waren mit derselben Staubschicht überzogen, die sich auch über den Rest des Hauses gelegt hatte. Bis auf die
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