Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Straße nach Eden - The Other Eden

Titel: Die Straße nach Eden - The Other Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bryant
Vom Netzwerk:
vom Klang russischer Kirchenglocken inspiriert war, der ihn sein ganzes Leben lang verfolgt hatte. Doch in dieser Nacht hörte ich noch mehr heraus als das Grauen des Bürgerkrieges und ständiger Unterdrückung. Die Musik ging weit über Trauer, Sehnsucht oder gar den Wunsch, Trost in Tränen zu finden, hinaus, sie war vielmehr ein Aufschrei, ein Verlangen nach endgültiger, absoluter Leere.
    Um die hinter den stummen Noten auf dem Papier verborgene unermessliche Qual in Töne fassen zu können, musste Alexander sie selbst durchlebt haben und noch immer durchleben. Während ich ergriffen lauschte, begann ich allmählich das Ausmaß des Schmerzes zu erahnen, der seine Seele verdunkelte und von dem mir seine verbitterte, verzweifelte Litanei auf dem Dach des Observatoriums bereits einen ersten flüchtigen Eindruck vermittelt hatte. Ich begriff, dass ich ihn weit weniger verstand, als ich mir eingebildet hatte. In einem Punkt war ich mir jedoch sicher: Nicht der Kummer um den Verlust seines gespaltenen Heimatlandes
bildete die Gefängnismauern, die ihn umschlossen, sondern etwas ungleich Machtvolleres, das ich momentan noch nicht einmal zu erahnen vermochte.
    Die letzten Töne des Stückes verklangen im staunenden Schweigen des Publikums. Ehe jemand es brechen konnte, entströmte dem Instrument schon neue Musik, diesmal so zart wie Schneeflocken und so vergänglich wie Eisblumen auf den Fensterscheiben. Plötzlich war ich wieder fünf Jahre alt und blickte aus dem Fenster meines Kinderzimmers durch Efeuranken und einen dichten Schneevorhang auf die Flügel des steinernen Engels im Park herab. Bei dem Stück konnte es sich nur um eine von Alexanders eigenen Kompositionen handeln. Ich dachte, er hätte es für Tascha geschrieben, bis er den Blick von den Tasten löste und mir zulächelte.
    Als das Stück zu Ende war, legte er eine kurze Pause ein, dann ging er zum nächsten über, einer Etüde - eben der, die mir so schwer zu schaffen gemacht hatte - und trug sie so virtuos vor, dass danach tosender Beifall aufbrandete. Dann spielte er zwei weitere Etüden, ehe er sich erhob, sich lächelnd verbeugte, meine Hand fest mit der seinen umschloss und mit mir den Raum verließ.
    Mary holte uns in der Halle ein und begann sofort lautstark zu protestieren. »Sollten wir uns nicht wenigstens noch von Dorian verabschieden?«
    »Eleanor fühlt sich nicht wohl«, erklärte Alexander ihr. Sein Blick warnte mich davor, ihm zu widersprechen, obwohl dies gar nicht in meiner Absicht gelegen hatte.
    Im Raum hinter uns hatte ein anderer Gast am Klavier Platz genommen und stimmte eine bekannte, mitreißende Melodie an. Die Leute begannen mitzusingen, und ich hörte ihre Füße über den Boden schleifen, als sie zu tanzen anfingen. Die Geräusche verebbten hinter uns, als wir der ausgelassenen Menge den Rücken kehrten und durch die
jetzt verlassenen anderen Räume, in denen überall leere, mit Fingerabdrücken und Lippenstift verschmierte Gläser herumstanden und der Boden mit Federn, Bänderfetzen, zerdrückten Blumen und Zigarettenstummeln übersät war, zur Vordertür zurückgingen.
    »Wir werden ihn jedenfalls bald wiedersehen«, bemerkte Mary, als wir in die süß duftende Dunkelheit hinaustraten und in das Auto einstiegen.
    »Wie meinst du das?« Ich schmiegte mich an Alexander, der mir einen Arm um die Taille gelegt hatte, und genoss seine tröstliche Wärme.
    »Dorian sagte, das Fest wäre ein so großer Erfolg, dass er schon das nächste planen würde. Ich erzählte ihm, dass du mit dem Gedanken spielst, auf Eden eine große Gesellschaft zu geben, daraufhin schlug er mir vor, gemeinsam ein Fest in dem Haus auf dem Hügel zu veranstalten. Natürlich nur, wenn du einverstanden bist.« Alexanders und mein offenkundiges Unbehagen entging ihr völlig.
    »In dem Haus kann man doch keine Gäste empfangen, dazu steht es zu lange leer«, wandte ich schwach ein.
    »Du bist doch wohl kein Spielverderber, Eleanor?«
    Sie sprach nur halb im Scherz, was mich zutiefst beunruhigte. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr so aufgeregt erlebt. Ihr war klar und deutlich vom Gesicht abzulesen, dass sie sich in Dorians Netz verstrickt hatte, und ich bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Mary war der ruhende Pol in meinem Leben, auf den ich mich immer verlassen hatte. Wenn es Dorian gelang, sie auf seine Seite zu ziehen, würde sich eine Kluft zwischen uns auftun, und ich lief Gefahr, von der Welle drohenden Unheils mitgerissen zu werden, die sich vor

Weitere Kostenlose Bücher