Die Strasse ohne Ende
sein als ein befreites Tier, das nach den Jahren der Gefangenschaft plötzlich in der weiten Wildbahn steht und nicht weiß, was es zuerst tun soll. Es wird merkwürdig sein, nicht mehr einen Menschen hinter sich zu haben, der alle Handlungen bewacht, der keinen Blick von einem wendet, der einen überallhin begleitet, sogar zu den Orten der leiblichen Notdurft. Beschämend war das, entehrend, furchtbar. Das alles ist nun vorbei, ist wieder eine der vielen Erinnerungen.
In den vergangenen Stunden hatte er mit einem Rätsel gerungen. Wer war das Mädchen, das deutsche Lieder sang und deutsch zu ihm sprach? Wie kam sie in dieses Haus? Warum schüttete sie ihm Obst in den Keller und verriet ihn nicht, obgleich sie ihn in der Nacht gesehen haben mußte? War es nicht ein Kinderlied, das sie sang? Ein altes Lied, das irgendwie in der Erinnerung haftete?
»Meine Mutter hat gepflanzet Zuckererbsen in den Garten …«
Zuckererbsen … Berlin … Ein kleines Haus am Rande der Stadt, in der Nähe von Sakrow, ein Haus mit einem tiefgezogenen Strohdach. Ein weiter Garten lag dahinter, und dort stand ein großer grauhaariger Mann und beschnitt die Blumenstöcke, während eine junge, hübsche blonde Frau in den Beeten harkte. Zwei Kinder saßen auf der Wiese und spielten. Ein Junge ritt auf einem Pony mit geschecktem Fell und blitzendem Zaumzeug wilde Ritte in einer Indianertracht, während ein Mädchen in einem Korbwagen saß und quiekend mit einer großen Rassel spielte.
Ja, das war damals. Wie lange ist es her! Hilde hieß das Mädchen, es war seine Schwester. Dann starb der Vater, man mußte das Haus verkaufen, Hans machte sein Abitur, studierte von Nachhilfegeldern und anderen Arbeiten in den Semesterferien, er promovierte und veröffentlichte schon als Student einige gute Erfindungen, die ihn unabhängig machten von der zermürbenden Jagd nach dem Geld.
Und hier, in Oued el Ham, in der Sahara, umgeben von Feinden, die ihn jagten, in dem Keller einer ausgebrannten Hausruine, hörte er wieder das Kinderlied, das die Mutter sang, wenn die Kinder nicht einschlafen wollten. Sie saß dann auf einem Schemel am Bett und sang mit ihrer hellen, klaren Stimme die Lieder, bis die Augen zufielen und die Kinder ruhig und zufrieden schliefen.
Er wischte sich über die Augen. Gedanken – nur Gedanken. Und es blieb das Rätsel: Wie kam ein Mädchen in die Wüste, das deutsche Kinderlieder sang?
Er schlich die morsche Treppe hinauf und blieb lauschend stehen, ehe er in das Gestrüpp hinaustrat. Der Garten war verlassen. Von den ›Häusern‹ herüber erscholl Gelächter. Ein Trupp Legionäre hatte bereits Ausgang und machte sich einen Spaß daraus, die Mädchen in der angrenzenden Bar betrunken zu machen.
Trotz der Stille wagte er es nicht, sein Versteck zu verlassen. Von irgendwoher hörte er einen Affen kreischen – aus der Richtung des Balkons, stellte er fest. Er duckte sich und kroch durch das Gebüsch, blieb unter den Blättern liegen und spähte zum Haus.
Hinter den Gittern lag Dunkelheit. Da kroch er wieder zurück und stieg in den Keller hinab. Ich werde in der Nacht ausbrechen, überlegte er. Aber bevor ich zu den Legionären flüchte, will ich die Frau noch einmal sprechen und sie fragen, wer sie ist.
Er schloß die Augen und träumte sich in die vergangenen Jahre zurück. So schlief er wieder ein, übermannt von der Erschöpfung.
Sein Traum mußte schön sein, denn er lächelte im Schlaf.
Dr. Paul Handrick wohnte in der Oase Bou Saâda, der ›Stätte des Glücks‹, wie sie der Araber blumig nennt, in dem mit allen erdenklichen Luxus eingerichteten Hôtel Transatlantique. Am Ausgang der Oase lag es, ein weißer Riesenbau mit großer, kühler Halle, deren wertvolle Fliesen mit dicken, handgeknüpften Teppichen bedeckt waren. Maurisches Gitterwerk bildete die Wände zu der großen Terrasse, hinter der ein großes Schwimmbad lag mit einem Sprungturm und Scheinwerfern, die über die Wasserfläche leuchteten und das Baden auch des Nachts erlaubten. Um das Schwimmbecken standen Korbmöbel unter großen, bunten Sonnenschirmen, während weißgekleidete arabische Kellner die Gäste bedienten. Am Abend leuchteten dann die Laternen auf – die Terrassen mit ihren Palmen, Blumenkästen, Agaven und blühenden Büschen wurden ein Märchen. In seidene Gewänder gehüllte Araberfürsten saßen dann an den weißgedeckten runden Tischen und tranken ihren alkoholfreien Flip, während die Europäer den schweren algerischen Wein, den
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