Die Strasse ohne Ende
auf und ging langsam durch den Garten auf das verfallene Haus zu. Ab und zu blieb sie stehen, ein Gefühl von Angst und nahender Gefahr überfiel sie; doch sie ging weiter und stand am Eingang des ausgebrannten Hauses.
In der Ruine war es still. Hoch wuchs das Unkraut auf dem mit der Asche gedüngten Boden. In der Mitte führte eine steile, halb mit Schutt angefüllte Treppe in den Keller.
Vielleicht helfe ich einem Dieb oder Mörder, dachte sie plötzlich. Vielleicht suchen sie ihn, weil er ein schweres Verbrechen begangen hat. Aber dann kam wilder, sinnloser Trotz in ihr auf. War es nicht auch ein Verbrechen, sie hier festzuhalten, mit goldenen Ketten und in prunkvollen Räumen? Wer suchte sie, wer hatte Erbarmen mit ihrem Schicksal, wer half ihr aus der Not?
Als sie das dachte, vergaß sie alle Vorsicht und trat an die Kellertreppe heran. Mit einem Schwung schüttete sie den vollen Obstkorb die Treppe hinab und flüchtete dann, als sie aus dem Inneren des Kellers einen lauten, hellen Schrei hörte, fast wie den Schrei eines Tieres.
Wie gehetzt rannte sie durch den Garten ins Haus zurück, hinauf auf ihr Zimmer, ohne sich umzublicken. Neben dem Käfig Bobos sank sie auf den Diwan und schlug beide Hände vors Gesicht.
Sie wartete auf Fuad, aber er kam nicht. Nur das Mädchen aus der Küche holte den Korb ab und wunderte sich über das Verschwinden der vielen Früchte.
Am Mittag aß Hilde wenig. Die Aufregung schnürte ihr die Kehle zu. Sie nahm nur ein paar Bissen von den großen Platten, die Fuad jeden Mittag auftragen ließ. Daß sie heute allein aß, empfand sie als Wohltat – Fuad war nach Biskra gefahren, um wichtige Geschäfte mit einer Außenhandelsfirma zu erledigen.
Nach dem Essen saß sie wieder am Balkongitter und beobachtete die Ruine. Sie konnte sie von diesem Platz genau überblicken; still wie immer lag sie unter der Sonne, gemieden von allen. Einmal glaubte sie einen weißen Flecken zwischen dem Gestrüpp zu sehen; das Herz stand ihr vor Erwartung und Spannung still, aber es war wohl doch nur eine Täuschung.
Da Fuad nicht in Oued el Ham war, wagte sie es, wieder in den Garten zu gehen und sich der Ruine zu nähern. Sie setzte sich auf einen der bewachsenen Steine und lehnte sich gegen die zerborstene Hauswand, als wollte sie sich sonnen. Im Rücken wußte sie den Kellereingang. Im Keller rührte sich nichts. Der Flüchtling schien zu lauern; er ahnte Gefahr und stand sprungbereit an der untersten Stufe.
Ich muß etwas tun, dachte sie. Ich muß ihm zeigen, daß ich kein Feind bin. Er soll Vertrauen haben.
Da begann sie zu singen, ein deutsches Kinderlied; es kam ihr plötzlich in den Sinn, unerklärlich, warum es gerade dieses Lied war. Und sie sang mit ihrer hellen, ein wenig kindlichen Stimme:
»Meine Mutter hat gepflanzet
Zuckererbsen in den Garten,
da kamen die Hühner und pickten sie auf.
Hühner, Hühner, weh, o weh,
wenn das Vater oder Mutter säh'.«
Sie brach ab und lauschte.
Stille.
Im Wadi stritten sich plötzlich zwei Händler. Ihre gutturalen Stimmen erfüllten den Garten. Dann gingen sie weiter.
Und wieder Stille.
Der Mann im Keller schien zu denken. Er wagte es nicht, sich bemerkbar zu machen. Aber auch Hilde wagte nicht, sich umzudrehen und in den Kellereingang zu blicken.
So sah sie nicht, wie der Mann schon hinter ihr stand, als sie das kleine Kinderlied beendet hatte.
Dr. Sievert wollte etwas sagen, als das Gespräch der Händler begann. Da tauchte er wieder in seinem Kellerloch unter und wartete, ob die Stimmen näherkommen würden.
Als sie verstummten, rief er leise: »Wer sind Sie?«
Hilde fuhr zusammen, als sie die deutschen Worte hörte, aber sie kam zu keiner Antwort.
Einer der Wächter aus den ›Häusern‹ trat in den Garten und ging auf die Ruine zu.
»Es kommt jemand!« sagte Hilde schnell. »Gehen Sie sofort hinab! Ich komme heute nacht wieder zur Ruine.« Sie erhob sich und bückte sich, als pflücke sie Blumen, im Arm sammelte sie die großen Blüten und richtete sich erstaunt auf, als der Wächter neben sie trat und ihr zusah.
Er sprach zu ihr, aber da es arabisch war, verstand sie ihn nicht. Sie schüttelte den Kopf und ging zur Mauer zurück.
An der untersten Stufe der Kellertreppe stand Dr. Sievert und lauschte hinauf. Er hörte den Wächter sprechen, und er verstand genau, was er sagte. Es war eine Beleidigung, eine Anmaßung des Mannes, der sich kühn und stark fühlte, weil Fuad in Biskra war. Er sagte schmutzige Worte zu dem Mädchen,
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