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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Dann: Studio Central. Der verabredete Zeitpunkt. Er kommt, aber er ist plötzlich ganz klein, sie muß sich zu ihm hinabbeugen, aber er scheint nicht zu merken, wie klein er ist, und in Wahrheit ist es ja gar nicht er, sondern Ralf Kling, der Nachbarssohn aus der Nummer achtzehn, und als sie genauer hinschaut, ist es auch nicht Ralf Kling, sondern unsere Großmutter, welche sie fragend anschaut, ein wenig vorwurfsvoll sogar.
    Am nächsten Morgen kann sich meine Schwester an diese Traumfragmente nur noch sehr ungenau erinnern, aber nach der Schule, am Nachmittag, holt sie dennoch ihr Tagebuch hervor und schreibt darin den Traum nieder, wie sie ihn gehabt zu haben meint, und den gestrigen Abend in der Reichskrone setzt sie ebenfalls hinzu, etwa so: Gestern bin ich beim Treffen gewesen und habe einen GI kennengelernt, wir haben uns gut verstanden, er ist sehr groß, er hat ein Auto und macht auch Dienst im PX, aber ich habe ihn da noch nie gesehen. Am Samstag gehen wir ins Central, wir haben uns verabredet. Am Abend bin ich mit AFN eingeschlafen. Im Traum h abe ich jemanden seinen Namen rufen hören. Alle auf dem Schulhof haben davon gesprochen. Ich war mit ihm im Central und hatte ein weißes Kleid an.
    Es ist vermutlich eine der längeren Eintragungen in ihrem Tagebuch. Wie gesagt, sie führte dieses Tagebuch zu der Zeit, weil alle es führten, und sie schrieb dort genau das hinein, was alle hineinschrieben. Zwar war das Tagebuch geheim, aber alle diese Freundinnen lasen sich dennoch andauernd daraus vor.
    Die Laune meiner Schwester den Eltern gegenüber bessert sich am auf die Reichskrone folgenden Tag nicht, denn nun steht ihr das Treffen in unserer Friedberger Diskothek, dem Studio Central unweit der Stadtkirche, bevor, dem sie zwar in einer ihr bislang unbekannten Erregung entgegenfiebert (ständig hat sie eine fliegende Hitze im Gesicht), aber sie hat keinerlei Ahnung, wie sie den Eltern sagen soll, daß sie morgen ins Studio Central gehen wird, um dort den GI Tim Zaenglein zu treffen. Im Studio Central verkehrten damals fast nur amerikanische Soldaten und deutsche Mädchen, das Central galt als Amilokal. Mit Ralf Kling, dem zwei Jahre älteren Nachbarssohn und Schulkollegen meines Bruders, hätten meine Eltern sie wohl ins Central gehen lassen, aber sonst mit vermutlich niemandem. Vor dem Central gab es regelmäßig Schlägereien.
    Also ist meine Schwester vorsorglich schon amTag vor dem Central schlecht gelaunt. Die schlechte Laune ist wie eine Vorsichtsmaßnahme, ein Fundament, um im folgenden darauf aufzubauen, denn noch hat meine Schwester kein Konzept zur Erzwingung des Central-Besuchs. Noch ist erst Freitag. Noch hat sie nichts vom Central gesagt. Beim Abendessen stochert sie auf ihrem Teller herum, und wenn meine Eltern mit demonstrativer Freundlichkeit fragen, was sie habe und ob es ihr nicht gutgehe, dann sagt sie bloß möglichst tonlos nein nein, wieso? Weil sie so wortlos sei, antworten meine besorgten Eltern. Sie sei doch überhaupt nicht wortlos, antwortet meine ansonsten weiterhin wortlose Schwester. Sie steht vorzeitig vom Abendessen auf, beteiligt sich anschließend auch nicht am Geschirrwegräumen, sondern setzt sich vor den Fernseher, weiterhin ohne einen Laut von sich zu geben, wobei sie ihre Ellbogen auf die Knie und ihren Kopf auf die Hände stützt und immer wieder mit einer Kopfbewegung ihre dauergewellten Haare aus der Stirn schüttelt. Aber die Haare kehren jedesmal sofort zielorientiert auf ihren Platz zurück und unterstreichen den Schmoll-Eindruck, den meine Schwester gerade auf ihre Umwelt macht. Sie sieht eine amerikanische Familienserie, aber eigentlich schaut sie gar nicht hin, sondern richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf das, was hinter ihr geschieht und was die Eltern gerade reden. Übrigens trägt sie ein Holzfällerhemd, nicht klassisch rotschwarz, sondern blaugrau. Mein Vater würde jetzt sehr gern die Nachrichten sehen, aber dafür geht er lieber hoch ins Schlafzimmer und schaltet dort den Fernseher ein …
    Als ich am nächsten Nachmittag nach Hause komme, sind alle Beteiligten äußerst bleich, und am Abend um neunzehn Uhr fährt mein immer noch kalkweißer Vater meine Schwester im Dienstwagen zur Stadtkirche und setzt sie dort vor dem Eingang des Studio Central ab, vor dem bereits einige GIs auf der Straße stehen, augenscheinlich sehr guter Laune, rauchend, und belustigt zuschauen, wie dort der Wagen hält und das Mädchen aussteigt, um im bunt erleuchteten Eingang des

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