Die Straße - Roman
herauskommt, steigt meine Mutter aus, läuft zu ihr hin und fragt, ob sie ihre Tochter gesehen habe, was sie denn da drin so lange mache? Was die da drin denn überhaupt machten? Keine Ahnung, ob sie schon draußen ist, sagt Eva N. Es gehe sie ja auch nichts an. Währenddessen blickt sie zum Automobil meines Vaters, sieht diesen darin sitzen und zieht für einen kleinen Moment die Augenbrauen hoch. Mehreres sagt diese Bewegung mit den Augenbrauen. Erstens, daßEva N. sich niemals von ihren eigenen Eltern in die Reichskrone bringen lassen würde, sondern daß sie alt genug ist, dort allein hinzugehen, und daß sie sich auch niemals so von den Eltern beaufsichtigen und bevormunden lassen würde in ihren Beziehungen zu Amerikanern und überhaupt in ihrem Ausgehverhalten mit Jungs bzw. Männern; zweitens, wie lächerlich sich diese Eltern machen, hier wie die aufgescheuchten Hühner herumzurennen und auf ihre Tochter zu warten; und drittens, wie unglaublich doof und verspießert nicht nur diese Eltern sind, sondern eigentlich alle hier, also die gesamte Wetterau, um nicht zu sagen überhaupt dieses blödsinnige Land mit all seinen Einwohnern. Niemals würde Eva N. meinen oder ihren Eltern oder überhaupt irgendwelchen Eltern erzählen, was in der Reichskrone vonstatten geht und was überhaupt in ihrem Leben und in ihrem Kopf (Herz) vonstatten geht, denn das würde nie einer von denen auch nur ansatzweise begreifen … Keiner von ihnen würde begreifen, daß sie, Eva N., einfach nicht so ist wie die anderen Deutschen und daß es überhaupt insgesamt kaum auszuhalten ist hier und daß man ja geradezu förmlich erstickt unter diesen Menschen. Endlich ausbrechen! Gerade deshalb geht sie ja in die Reichskrone oder ins Central oder an die übrigen Orte, wo man andere Leute kennenlernen kann. Und dann stehen sie auch noch hier, diese Eltern ausdem Barbaraviertel, diese grauen, verbiesterten, blockwarthaften Mäuse, die die Bevölkerung ihrer Heimat bilden. Diese Graue-Maus-Heimat!
Dennoch bleibt Eva N. freundlich, verabschiedet sich so höflich, wie sie es als Nachbarstochter tun zu müssen meint, und läßt meine Eltern dann allein auf der Kaiserstraße zurück. Noch immer treten Mädchen aus der Reichskrone auf die Kaiserstraße heraus, und nun endlich kommt auch meine Schwester, es ist schon mehr als eine halbe Stunde über die verabredete Zeit, aber meine Eltern wissen, daß sie diesbezüglich lieber keine Bemerkung machen. Meine Schwester hat ihren Blick gesenkt und steigt ins Auto. Eben, drinnen in der Reichskrone, war sie noch bester Laune gewesen, jetzt, bei den Eltern draußen, ist ihre Laune sofort die allerschlechteste, die sich denken läßt. Sie erwartet, daß sie gleich gefragt wird, wen sie kennengelernt habe, über was sie gesprochen hätten und so weiter. Meine Schwester kann diese Fragen nicht ertragen, und beantworten würde sie sie schon gar nicht. Sie sitzt wie ein Paket Dynamit im Auto, das jede Sekunde hochgehen kann. Auch Minimalfragen wie: War es schön? oder: Hast du dich gut unterhalten? würden zu einer sofortigen Explosion führen. Eben hatte sie noch dort drin am Tisch gesessen und etwas ganz anderes vor sich gesehen, eben noch in der Reichskrone war alles gut gewesen, jetzt ist sie todunglücklich bis zurseelischen Totalschwärze und verkraftet nicht, so auf sich selbst und diese Eltern und überhaupt alles zurückgeworfen zu sein. Vermutlich würde sie am liebsten um sich schlagen. So sitzt sie im Automobil, und meine Eltern kutschieren sie nicht weniger vorsichtig nach Hause als die Königin-Pasteten vom Café Müller am Weihnachtsvortag, die stets so sanft wie möglich transportiert wurden, damit sie nicht bei der Fahrt zerbrachen.
Meine Schwester schaut während der Fahrt von der Kaiserstraße in den Mühlweg auf die von den Laternen erleuchteten Wirtschaften und Häuser und ist ebenso von Haß (auf meine Eltern) wie von ihren unstillbaren Wünschen (nach einer anderen Welt, nach den zwei Stunden in der Reichskrone, nach dem Amerikaner von eben, wie hieß er genau, er hieß Tim, und wie dann, hieß er wirklich Zaenglein ? das ist doch kein Name für einen Amerikaner!) erfüllt. Die Häuser huschen vorbei wie einzelne Lebensmöglichkeiten, und meine Schwester denkt, hinter all diesen Fenstern spielt sich doch das Immergleiche ab, Eltern, die ihre Töchter beaufsichtigen und bevormunden und nicht allein in die Reichskrone gehen lassen, sondern die wollen, daß man einen deutschen Mann oder,
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