Die Straße - Roman
sie ihr ganzes Sehnen hineinlegten. Überhaupt versuchten sie jetzt so viele amerikanische Wörter wie möglich in ihrem alltäglichen Sprachfluß unterzubringen, und waren sie unter sich, stieg aus Gründen der gegenseitigen Konkurrenz die Häufigkeit dieser Wörter noch um ein Vielfaches. Auch sonst versuchten sie einander zu übertreffen, meistens dadurch, daß sie aufzählten, wie viele Amerikaner sie bereits kannten, und wer am meisten kannte, hatte gewonnen, zumal er dann auch am häufigsten in die Nähe der Barracks kam und umso häufiger den PX frequentierte. Es war Seligkeit im Gesicht der Mädchen, und sie waren stolz auf alles, auf ihre amerikanische Kleidung, die sie jetzt trugen, auf ihre amerikanischen Holzfällerhemden, auf die amerikanischen Kaugummis, die sie kauten, das amerikanische Bier, das sie aus der Blechdose tranken, obgleich sogar die amerikanischen Soldaten amerikanisches Bier nur dann tranken, wenn kein anderes zur Hand war, also eigentlich nur imNotfall. Bei uns zu Hause auf der Terrasse tranken sie immer den Henninger-Haustrunk, den mein Vater aus Frankfurt mitbrachte.
Im Grunde waren die GIs der Bravo-Poster-Traum all dieser Mädchen.
Den Gefreiten Tim Zaenglein zum Beispiel hatte meine Schwester im hinteren, nur selten benutzten Kollegsaal der alten Reichskrone auf der Kaiserstraße kennengelernt, unweit der Dunkel, in der damals noch mein Onkel J. verkehrte. Ich sehe vor mir, wie meine frisch geschminkte und gefönte Schwester, sei es in einem Kleid, wie man es damals manchmal noch zu den Familiengeburtstagen anzog, wenn man zur Verwandtschaft fuhr, sei es in Jeans und Bluse (und zwar der besten Bluse und der engsten Jeans) zu meinem Vater in den MercedesDienstwagen der Henninger Bräu steigt, um auf die Kaiserstraße zur Reichskrone gebracht zu werden. Die Idee US-Amerikas war damals im Kopf meiner Schwester schon so groß und mächtig, daß meine Eltern die Waffen gestreckt hatten und nur noch versuchten, das Schlimmste zu verhindern. Deshalb fuhren sie die Schwester lieber eigenhändig zu den Treffen, lieferten sie dort ab, fuhren wieder nach Hause, kehrten dann zur verabredeten Zeit auf die Kaiserstraße zurück, stellten sich mit ihrem Wagen vor die Reichskrone und warteten, bis die Schwester wieder aus dem Lokal herauskomme, hoffentlich noch unversehrt und in ebenso jungfräulichem Zustand wie vorher.
Ängstlich stehen sie nun also dort herum bzw. sitzen in ihrem Auto und warten. Die verabredete Uhrzeit ist längst um.
Erst kommt ein Mädchen aus der Reichskrone heraus, dann ein weiteres, immer mehr Mädchen kommen aus der Reichskrone, aber meine Schwester ist nicht darunter. Anhand der aus der Reichskrone strömenden Mädchen können meine Eltern eine Vielzahl der unterschiedlichsten Mädchentypen studieren, die aber doch allesamt eine Gemeinsamkeit teilen, nämlich in mehr oder minder schwerer Weise von dem besagten Virus befallen zu sein. Für manche der Mädchen ist es bloß ein einmaliges Abenteuer und ein Wagnis, auf das man sich einläßt, weil die Freundin da auch schon mal war, ein kleiner Tabubruch und auch immer so etwas wie ein Aufbegehren gegen die bisherigen Wetterauer Jahre, die man zu Hause verlebt hat in diesem Land, das einem so seltsam ungelenk und altmodisch erscheint, seitdem man die Amerikaner kennt. Für manch andere sind diese Treffen inzwischen die Hauptwochenunterhaltung; es gibt Mädchen, die die US-Soldaten völlig anhimmeln, dann wieder welche, die auf sie wie auf Zuchtbullen sehen. Dann wieder gibt es jene, die da einfach so mal hinwollen, aus bloßer Neugierde, um sich anschließend mit ihrem Freund darüber auszutauschen, was es so alles gibt – allerdings führt das meistens zu Eifersucht, denn man weiß ja nie, was dort im Hinterraum der Reichskrone geschieht zwischen den seriell hingesetzten GIs und den ihnen gegenübergesetzten deutschen Mädchen in Röcken oder engen Jeans und Blusen. Es gibt ja auch Hände. Es gibt ja auch Füße. Und vor allem gibt es hinterher meist irgendwelche Verabredungen, die dann nicht mehr im hinteren Saal der Reichskrone bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Apfelsaft stattfinden.
So defilieren die Mädchen an meinen Eltern im Wagen vorbei, und immer noch kommt die Schwester nicht heraus.
Nun machen sie sich langsam wirklich Sorgen, und meine Mutter sagt zu meinem Vater, jetzt muß sie doch endlich herauskommen, wo bleibt sie denn bloß? Als Eva N., eine Nachbarstochter aus dem Mühlweg, aus der Reichskrone
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