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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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besser gesagt, einen deutschen Jungen kennenlernt und mit diesem deutschen Jungen dann von Anfang an zusammen ist, am besten gleich mit dem ersten, mit dem mandann immer zusammenbleibt, am besten gleich mit Ralf Kling, dem Nachbarssohn, und den soll man dann heiraten, und am Ende hat man dann in seinem ganzen Leben einen einzigen deutschen Jungen bzw. Mann gehabt, und mit dem ist man dann immer zusammengeblieben und hat nie einen anderen kennengelernt, und das soll dann das Leben gewesen sein. Dafür haben uns die Amerikaner aber nicht befreit.
    Dann fahren sie zum Hoftor hinein, das mein Vater aufschiebt, und drinnen im Haus fragt meine Mutter meine Schwester noch, ob sie etwas gegessen habe und ob sie nicht vielleicht jetzt noch etwas essen möchte, aber meine Schwester, die Lust hätte, sofort jede Tür im ganzen Haus zuzuknallen, bis die Türgriffe herausfliegen, antwortet nichts, schaut an sich herunter, an ihrem Rock bzw. der engen Jeans, schaut auf ihre Bluse und ihren Busen und geht wortlos in ihr Zimmer. Dort schließt sie die Tür ab, um sich ihren Träumen hingeben zu können und nicht weiter Gefahr zu laufen, daß meine Eltern sie etwa noch einmal zur Rede stellen könnten.
    So kamen die Mädchen abends nach Hause, und jede folgende Handlung war eine Sehnsuchtshandlung. Die Jeans öffnen, die Bluse ablegen, ins Bett steigen, die Brüste liegen wieder einmal verramscht und unbenutzt da, obgleich noch vor einer Stunde nicht nur dieser Amerikaner ihnen am Tisch gegenüber darauf geblickt hat, sondern auch viele der anderen, wie sie glauben. Die Brüste erst einmal nicht zudecken. Noch außerhalb der Decke liegen lassen. Könnte immer noch jemand darauf starren, und jetzt um so besser. Aber vielleicht haben sie auch längst ein T-Shirt an und denken weder weiter an ihre Eltern noch an die auf sie blickenden Amerikaner in der Reichskrone, sondern haben sich inzwischen auf ihrem Bett zum Radio gewendet und schalten es an, um nahe an ihrem Ohr AFN zu hören, American Forces Network , sie müssen den Sender nicht einstellen, sie wechseln ihn niemals. Nachrichten von den US-Soldaten aus Deutschland. Nachrichten und Grußbotschaften von US-Soldaten aus aller Herren Länder, wo auch immer sie stationiert sind. Die Musikwünsche für Jim aus Vernon, Connecticut, oder für Bob aus Stockton, Kansas. Sie, die Mädchen, kamen ja nur aus Friedberg, Wetterau.
    Meine Schwester liegt im Bett, und AFN wiegt sie in den Schlaf wie das schönste und ruhigste und sehnsuchtsvollste aller Wiegenlieder. Noch die auf amerikanisch angesagte Uhrzeit in Central Europe kommt ihr vor wie die Stimme des lieben Gottes, der ihr gerade Gutenacht sagt. Und wie sie langsam in den Schlaf gleitet, vermischen sich die Erlebnisse in der Reichskrone bzw. die Verabredung, die sie dort mit Tim Zaenglein getroffen hat, mit dem, was ihr mit Tim Zaenglein bevorstehen wird, als geschehe alles das schon jetzt und nicht erst dann, wenn sie sich wirklich wiedersehen werden, was übrigens übermorgen sein wird, aber das hat sie nun schon vergessen, denn Raum und Zeit haben sich für sie aufgelöst, da sie im Bett liegt und eingeschlafen ist, während das Radio in die dunkle Nacht im Zimmer hineinleuchtet und die AFN-Stimme noch immer die Uhrzeit ansagt, Stunde um Stunde.

    It ’ s one o ’ clock in Central Europe
    It ’ s two o ’ clock in Central Europe
    It ’ s three o ’ clock in Central Europe

    Bilderfetzen. Fragmentarische Szenen. Sie auf dem Schulhof. Jemand will etwas von ihr wissen, will sie ausfragen, eine Schulfreundin, aber eigentlich ist sie eine Feindin, sie steht so seltsam halbverdeckt hinter der Schultoilettenwand. Meine Schwester will aber nichts sagen. Vor allem will sie nichts über jemanden namens Tim Zaenglein sagen, und das schreit sie nun aus sich heraus: Ich werde niemandem erzählen, daß er Zaenglein heißt , und plötzlich lacht die Freundin-Feindin und geht zufrieden davon. Dann: Schulhof. Eine allgemeine Schlacht. Alle Schulhofmädchen schreien und schlagen sich und reißen sich an den Haaren, meine Schwester wird fast zertrampelt, ist aber aus irgendeinem Grund plötzlich auch selbst wütend auf die anderen, und alssie die Möglichkeit hat, ihrer Freundin-Feindin von hinten den Rücken zu zerkratzen, will sie es auch tun, aber kaum rührt sie sie an, hat sie schon die ganze Rückenhaut in der Hand. Zänglein, Zänglein rufen alle, sie sieht den Namen jetzt in Buchstaben vor sich, mit dem demütigenden deutschen Umlaut.

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