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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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kurzen Moment lang ein schwaches Muster wie die Form einer Blume, eine geschmolzene Rose. Dann war alles wieder dunkel.
     
    In dieser Nacht kampierten sie im Wald auf einem Kamm, der einen Blick auf die breite, sich Richtung Süden erstreckende Piedmontebene bot. An einem Felsen entfachte er ein Kochfeuer, und sie aßen den Rest der Morcheln und eine Dose Spinat. Nachts brach in den Bergen über ihnen ein Unwetter aus, das krachend und brausend herabgefegt kam, und immer wieder riss das verschleierte Aufflammen der Blitze die ganz und gar graue Welt aus der Nacht. Der Junge klammerte sich an ihn. Alles zog weiter. Ein kurzes Geprassel von Hagel, dann langsamer, kalter Regen.
     
     
    Als er wieder aufwachte, war es immer noch dunkel, aber es hatte aufgehört zu regnen. Draußen im Tal ein rauchiges Licht. Er stand auf und marschierte den Kamm entlang. Ein Flammenschleier, der sich meilenweit erstreckte. Er hockte sich hin und betrachtete ihn. Er konnte den Rauch riechen. Er befeuchtete sich den Finger und hielt ihn in den Wind. Als er aufstand und sich umdrehte, um zurückzugehen, war es unter der Plane, wo der Junge erwacht war, hell. So im Dunkeln gelegen, wirkte die fragile blaue Form wie der Standort irgendeines letzten Unternehmens am Rande der Welt. Wie etwas fast Unerklärliches. Was es auch war.
     
     
    Den ganzen folgenden Tag marschierten sie durch den treibenden Holzrauchschleier. Im Luftzug stieg der Rauch wie Nebel vom Boden auf, und auf den Hängen brannten dünne schwarze Bäume wie Büschel heidnischer Kerzen. Spät am Tag kamen sie an eine Stelle, wo das Feuer die Straße überquert hatte. Der Asphalt war noch warm und wurde ein Stück weiter allmählich weich unter den Füßen. Der heiße schwarze Mastix sog an ihren Schuhen und dehnte sich bei jedem Schritt zu dünnen Bändern. Sie blieben stehen. Wir müssen warten, sagte er.
     
    Sie gingen zurück und kampierten auf der Straße, und als sie am nächsten Tag weitergingen, war der Asphalt abgekühlt. Irgendwann stießen sie auf eine im Teer abgeformte Fußspur. Sie tauchte ganz plötzlich auf. Er ging in die Hocke und untersuchte sie. In der Nacht war jemand aus dem Wald gekommen und auf der weich gewordenen Straße weitermarschiert.
    Wer ist das?, fragte der Junge.
    Ich weiß nicht. Wer soll̕s schon sein?
     
    Sie sahen ihn, wie er vor ihnen die Straße entlangschlurfte, dabei ein Bein nachzog und ab und zu mit hängenden Schultern unentschlossen stehen blieb, ehe er sich wieder in Marsch setzte.
    Was sollen wir tun, Papa?
    Gar nichts. Wir gehen ihm einfach nach und beobachten ihn.
    Wir schauen erst mal, sagte der Junge.
    Genau. Wir schauen erst mal.
     
     
    Sie folgten ihm ein ganzes Stück, aber bei seinem Tempo verloren sie zu viel Zeit, und schließlich setzte er sich einfach auf die Straße und stand nicht wieder auf. Der Junge hielt sich an der Jacke seines Vaters fest. Keiner sagte etwas. Er sah ebenso verbrannt aus wie die Landschaft, seine Kleidung war ver- sengt und schwarz. Eines seiner Augen war zugeschwollen, und sein Haar war nichts als eine nissige Aschenperücke auf seinem geschwärzten Schädel. Als sie ihn passierten, senkte er den Blick. Als hätte er etwas verbrochen. Seine Schuhe wurden von Draht zusammengehalten und waren teerverkrustet, und er saß stumm da, in seinen Lumpen vornübergebeugt. Der Junge blickte sich immer wieder um. Papa?, flüsterte er. Was hat der Mann?
    Er ist vom Blitz getroffen worden.
    Können wir ihm nicht helfen? Papa?
    Nein. Wir können ihm nicht helfen.
    Der Junge zupfte immer wieder an seiner Jacke. Papa?, sagte er.
    Hör auf.
    Können wir ihm nicht helfen, Papa?
    Nein. Wir können ihm nicht helfen. Man kann nichts für ihn tun.
     
    Sie gingen weiter. Der Junge weinte. Er sah sich immer wieder um. Am Fuß des Hügels angelangt, blieb der Mann stehen, sah den Jungen an und blickte dann nach hinten die Straße entlang. Der Verbrannte war vornübergefallen, und auf die Entfernung war nicht einmal mehr zu erkennen, worum es sich handelte. Es tut mir leid, sagte er. Aber wir können ihm nichts geben. Wir haben keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Was ihm passiert ist, tut mir leid, aber wir können nichts machen. Das weißt du doch, oder? Der Junge hatte den Blick gesenkt. Er nickte. Dann gingen sie weiter, und er sah sich nicht wieder um.
     
    Am Abend ein trübes, schwefliges Licht von den Bränden. Das stehende Wasser in den Gräben am Straßenrand schwarz vom Abfluss. Die Berge verhüllt. Auf

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