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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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Argument. Die hundert Nächte, in denen sie wach geblieben waren und mit der Ernsthaftigkeit von Philosophen, die an eine Irrenhauswand gekettet waren, das Für und Wider der Selbstvernichtung erörtert hatten. Am Morgen blieb der Junge zunächst stumm, und als sie zusammengepackt hatten und abmarschbereit waren, drehte er sich um, blickte auf ihren Lagerplatz zurück und sagte: Sie ist weg, stimmt̕s? Und er sagte: Ja, sie ist weg.
     
    Immer so überlegt, auch von den seltsamsten Ereignissen kaum zu überraschen. Ein Geschöpf, perfekt daraufhinentwickelt, seinen eigenen Untergang zu erleben. Sie saßen um Mitternacht im Bademantel am Fenster, aßen bei Kerzenlicht und sahen zu, wie ferne Städte brannten. Ein paar Nächte spä- ter kam sie beim Licht einer Trockenzellenlampe in ihrem Bett nieder. Handschuhe, die zum Geschirrspülen gedacht waren. Das kaum zu fassende Erscheinen der kleinen Schädelkrone. Von Blut und glattem schwarzem Haar gemasert. Das stin- kende Kindspech. Ihre Schreie ließen ihn gleichgültig. Vor dem Fenster nur die zunehmende Kälte, die Brände am Horizont. Er hielt den mageren roten Körper hoch, der so wund und nackt war, schnitt mit einer Küchenschere die Nabel- schnur durch und hüllte seinen Sohn in ein Handtuch.
    Hast du Freunde gehabt?
    Ja.
    Viele?
    Ja.
    Erinnerst du dich noch an sie?
    Ja.
    Ich erinnere mich noch an sie.
    Was ist mit ihnen passiert?
    Sie sind gestorben.
    Alle?
    Ja. Alle.
    Vermisst du sie?
    Ja. Ich vermisse sie.
    Wohin gehen wir?
    Wir gehen nach Süden.
    Okay.
     
    Sie waren den ganzen Tag auf der langen schwarzen Straße und machten am Nachmittag halt, um sparsam von ihren kärglichen Vorräten zu essen. Der Junge nahm seinen Spielzeuglastwagen aus dem Rucksack und zog mit einem Stock Straßen in die Asche. Der Lastwagen gondelte langsam dahin. Der Junge machte Motorengeräusche. Der Tag mutete beinahe warm an, und sie schliefen im Laub, ihren Rucksack unter dem Kopf.
     
    Irgendetwas weckte ihn. Er drehte sich auf die Seite und lauschte. Den Revolver in der Hand, hob er langsam den Kopf. Er schaute auf den Jungen hinab, und als er wieder zur Straße blickte, kamen die Ersten schon in Sicht. Mein Gott, wisperte er. Er schüttelte den Jungen, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Die von Kapuzen verhüllten Köpfe hin- und herdrehend, kamen sie durch die Asche geschlurft. Einige trugen Gasmasken. Einer steckte in einem Schutzanzug. Fleckig und verdreckt. Kamen mit Knüppeln in den Händen, mit Eisenrohrstücken angetrottet. Hustend. Dann hörte er auf der Straße hinter ihnen ein Geräusch wie von einem Lastwagen mit Dieselmotor. Schnell, flüsterte er. Schnell. Er steckte sich den Revolver in den Gürtel, packte den Jungen an der Hand, zerrte den Wagen zwischen den Bäumen hindurch und kippte ihn an einer Stelle um, wo er nicht so ohne weiteres zu sehen sein würde. Der Junge war vor Angst wie erstarrt. Er zog ihn an sich. Keine Sorge. Wir müssen weglaufen. Schau nicht zurück. Los.
     
    Er warf sich ihre Rucksäcke über die Schulter, und sie brachen durch das zerkrümelnde Farngestrüpp. Der Junge hatte schreckliche Angst. Lauf, flüsterte er. Lauf. Er blickte zurück. Der Lastwagen war rumpelnd in Sicht gekommen. Auf der Ladefläche standen Männer und hielten Ausschau. Der Junge stürzte, und er zog ihn hoch. Keine Angst, sagte er. Los, weiter.
     
     
    Zwischen den Bäumen hindurch konnte er eine Lücke sehen, die er für einen Graben oder eine Schneise hielt, und durch das Unkraut gelangten sie auf eine alte Fahrbahn. Unter den Ascheverwehungen waren gesprungene Makadamplatten erkennbar. Er zog den Jungen zu Boden, und sie duckten sich, nach Atem ringend, hinter die Böschung und lauschten. Draußen auf der Straße konnten sie den Dieselmotor hören, der mit Gott weiß was lief. Als er sich aufrichtete, um besser zu sehen, konnte er gerade noch den oberen Teil des Lastwagens erkennen, der sich die Straße entlangbewegte. Auf der Pritsche standen Männer, einige davon mit einem Gewehr in der Hand. Der Lastwagen fuhr weiter, schwarzer Dieselqua lm zog in den Wald. Der Motor klang unrund. Hatte Fehlzündungen und stotterte. Dann ging er aus.
     
     
    Er sank zu Boden und legte sich die Hand auf den Kopf. O Gott, sagte er. Sie hörten, wie das Ding ratternd und klopfend abstarb. Dann bloß noch Stille. Er hatte den Revolver in der Hand, konnte sich nicht einmal mehr erinnern, ihn aus dem Gürtel gezogen zu haben. Sie hörten die Männer reden. Hörten, wie

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