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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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vielleicht im Schlaf gesagt. Als er zurückkam, war der Junge wach. Tut mir leid, sagte er.
    Schon gut.
    Schlaf weiter.
    Ich wünschte, ich wäre bei meiner Mom.
    Er gab keine Antwort. Er setzte sich neben die kleine, in Fell- und Wolldecken gehüllte Gestalt. Nach einer Weile sagte er: Du meinst, du wünschst dir, du wärst tot.
    Ja.
    Das darfst du nicht sagen.
    Aber es ist so.
    Sag das nicht. So etwas Schlimmes sagt man nicht.
    Ich kann nicht anders.
    Ich weiß. Aber du musst.
    Und wie soll das gehen?
    Ich weiß nicht.
     
    Wir sind Überlebende, sagte er ihr über die Flamme der Lampe hinweg.
    Überlebende?, gab sie zurück.
    Ja.
    Um Himmels willen, was redest du denn da? Wir sind keine Überlebenden. Wir sind die wandelnden Toten in einem Horrorfilm.
    Ich bitte dich.
    Das ist mir egal. Es ist mir egal, wenn du heulst. Das lässt mich völlig kalt.
    Bitte.
    Hör auf.
    Ich bitte dich. Ich tue alles.
    Was denn zum Beispiel? Ich hätte das schon längst tun sollen. Als noch drei Kugeln in dem Revolver waren anstatt zwei. Das war dumm von mir. Wir haben das alles zigmal durch- gekaut. Ich habe mich nicht in diese Lage gebracht. Ich bin in diese Lage gebracht worden. Und jetzt habe ich genug davon. Ich habe mir sogar überlegt, es dir gar nicht zu sagen. Das wäre wahrscheinlich das Beste gewesen. Du hast zwei Kugeln, und was weiter? Du kannst uns nicht beschützen. Du sagst, du würdest für uns sterben, aber wozu soll das gut sein? Wenn du nicht wärst, würde ich ihn mitnehmen. Das weißt du. Es ist das einzig Richtige.
    Du redest irre.
    Nein, ich spreche die Wahrheit. Früher oder später werden sie uns kriegen, und dann werden sie uns umbringen. Sie werden mich vergewaltigen. Sie werden ihn vergewaltigen. Sie werden uns vergewaltigen und umbringen und fressen, und du willst das nicht wahrhaben. Du wartest lieber, bis es passiert. Aber ich kann das nicht. Ich kann das nicht. Sie saß da und rauchte ein schlankes Stück getrockneter Weinrebe, als handelte es sich um einen teuren Stumpen. Hielt es mit einer gewissen Eleganz, die andere Hand auf den angezogenen Knien. Über die kleine Flamme hinweg sah sie ihn an. Früher haben wir manchmal über den Tod geredet. Das tun wir jetzt nicht mehr. Warum wohl?
    Ich weiß nicht.
    Weil er da ist. Es gibt nichts mehr, worüber man reden könnte.
    Ich würde dich nicht verlassen.
    Das ist mir egal. Es ist sinnlos. Du kannst dir mich als treulose Schlampe vorstellen, wenn du magst. Ich habe mir einen neuen Liebhaber genommen. Er kann mir etwas geben, was du mir nicht geben kannst.
    Der Tod ist kein Liebhaber.
    O doch, das ist er.
    Bitte tu das nicht.
    Es tut mir leid.
    Ich schaffe das nicht allein.
    Dann lass es. Ich kann dir nicht helfen. Es heißt, Frauen träumen von Gefahren für ihre Schützlinge und Männer von Gefahren für sie selbst. Aber ich träume überhaupt nicht. Du sagst, du schaffst es nicht? Dann lass es. Das ist alles. Denn ich habe mein Hurenherz gründlich satt, und das schon lange. Du redest davon, Stellung zu beziehen, aber es gibt keine Stellung, die man beziehen könnte. In der Nacht, als er geboren wurde, hat es mir das Herz aus dem Leib gerissen, also verlange jetzt keinen Kummer von mir. Ich empfinde keinen. Vielleicht kannst du es ja auch gut. Ich bezweifle es, aber wer weiß. Aber eines kann ich dir sagen: Allein wirst du nicht überleben. Das weiß ich, weil ich allein nie so weit gekommen wäre. Ein Mensch, der niemanden hat, wäre gut beraten, sich irgendeinen passablen Geist zusammenzuschustern. Ihm Leben einzuhauchen und ihn mit Worten von Liebe bei der Stange zu halten. Ihm jede Phantomkrume anzubieten und ihn mit dem eigenen Körper zu beschützen. Was mich angeht, hoffe ich nur auf das ewige Nichts, und das von ganzem Herzen.
    Er gab keine Antwort.
    Dir fällt kein Argument ein, weil es keines gibt.
    Wirst du dich von ihm verabschieden?
    Nein, das werde ich nicht.
    Warte doch noch bis morgen. Bitte.
    Ich muss gehen.
    Sie war bereits aufgestanden.
    Um der Liebe Christi willen, Frau. Was soll ich ihm denn sagen?
    Ich kann dir nicht helfen.
    Wo willst du denn hin? Du kannst doch gar nichts sehen.
    Das muss ich auch nicht.
    Er stand auf. Ich bitte dich, sagte er. Nein. Ich will nicht. Ich kann nicht.
     
    Sie war fort, und die Kälte, die sie hinterließ, war ihr letztes Geschenk. Sie würde es mit einem Obsidiansplitter tun. Er hatte es ihr selbst beigebracht. Schärfer als Stahl. Die Schneide nur ein Atom dick. Und sie hatte recht. Es gab kein

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