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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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Genau so. Die Seele ist schnell. Zieh ihn an dich. Küss ihn. Schnell.
     
    Er wartete. Der kleine vernickelte Revolver in seiner Hand. Er verspürte einen Hustenreiz. Er richtete seine ganze Konzentration darauf, ihn zu unterdrücken. Er versuchte zu lauschen, konnte aber nichts hören. Ich lasse dich nicht allein, flüsterte er. Ich werde dich nie allein lassen. Verstehst du? Das zitternde Kind in den Armen, lag er im Laub. Hielt den Revolver umklammert. Die ganze lange Dämmerung hindurch bis in die Dunkelheit hinein. Kalt und sternenlos. Unschätzbar. Allmählich glaubte er, dass sie eine Chance hatten. Wir müssen einfach warten, flüsterte er. So kalt. Er versuchte nachzudenken, aber sein Verstand schwamm. Er war so schwach. Dieses ganze Gerede von wegen weglaufen. Er konnte nicht laufen. Als es um ihn herum völlig schwarz war, löste er die Riemen am Rucksack, zog die Decken heraus und breitete sie über den Jungen, der bald darauf einschlief.
     
     
    In der Nacht hörte er vom Haus her grässliche Schreie und hielt dem Jungen die Ohren zu, und nach einer Weile verstummte das Geschrei. Er lag da und lauschte. Als sie durch das Rohrdickicht auf die Straße gekommen waren, hatte er einen Kasten gesehen. So etwas wie das Spielhaus eines Kindes. Ihm wurde klar, dass sie von dort aus die Straße beobachteten. Auf der Lauer lagen und die Glocke im Haus läuteten, um ihre Komplizen herbeizurufen. Er döste ein und wachte auf. Was kommt da? Schritte im Laub. Nein. Bloß der Wind. Nichts. Er setzte sich auf und blickte in Richtung Haus, konnte aber nur Dunkelheit sehen. Er rüttelte den Jungen wach. Komm, sagte er. Wir müssen gehen. Der Junge gab keine Antwort, aber der Mann wusste, dass er wach war. Er zog ihm die Decken weg und schnallte sie am Rucksack fest. Komm, flüsterte er.
     
    Sie machten sich auf den Weg durch den dunklen Wald. Irgendwo hinter dem aschenen Schleier war ein Mond, und sie konnten die Bäume gerade noch ausmachen. Wie Betrunkene wankten sie weiter. Wenn sie uns finden, bringen sie uns um, stimmt̕s, Papa?
    Pst. Nicht mehr reden.
    Stimmt̕s Papa?
    Pst. Ja. Ja, es stimmt.
     
    Er hatte keine Ahnung, welche Richtung sie eingeschlagen hatten, und befürchtete, sie könnten im Kreis gehen und zum Haus zurückkehren. Er versuchte, sich zu erinnern, ob er irgendetwas darüber wusste oder ob es sich lediglich um ein Märchen handelte. In welche Richtung kamen Verirrte ab? Vielleicht richtete sich das nach der jeweiligen Hemisphäre. Oder nach Links- oder Rechtshändigkeit. Schließlich verbannte er es aus seinen Gedanken. Die Vorstellung, es gebe eine Abweichung, die man ausgleichen müsse. Sein Verstand spielte ihm Streiche. Gespenster, von denen man tausend Jahre lang nichts gehört hatte, erwachten langsam aus dem Schlaf. Versuch mal, das auszugleichen. Der Junge torkelte. Stolpernd und nuschelnd bat er darum, getragen zu werden, und der Mann trug ihn, und er schlief sofort an seiner Schulter ein. Er wusste, dass er ihn nicht weit tragen konnte.
     
     
    Er erwachte im Dunkel des Waldes im Laub und zitterte heftig. Er setzte sich auf und tastete nach dem Jungen. Er legte die Hand auf die dünnen Rippen. Wärme und Bewegung. Herzschlag.
     
     
    Als er erneut aufwachte, war es fast hell genug, um etwas zu sehen. Er warf die Decke zurück, stand auf und fiel beinahe hin. Er fand sein Gleichgewicht und versuchte, in dem grauen Wald um ihn herum etwas zu erkennen. Wie weit waren sie gekommen? Er erstieg eine kleine Erhebung, ging in die Hocke und sah zu, wie es Tag wurde. Die sparsame Dämmerung, die kalte, lichtlose Welt. In der Ferne etwas, das wie ein Kiefernwald aussah, nackt und schwarz. Eine farblose Welt aus Draht und Krepp. Er kehrte zu dem Jungen zurück und ließ ihn sich aufsetzen. Sein Kopf kippte immer wieder nach vorn. Wir müssen gehen, sagte er. Wir müssen gehen.
     
     
    Er trug ihn über die Wiese und blieb jedes Mal, wenn er fünfzig Schritte abgezählt hatte, stehen, um sich auszuruhen. Bei den Kiefern angelangt, kniete er nieder, legte ihn auf die sandige Nadelschicht, deckte ihn mit den Decken zu, saß da und betrachtete ihn. Er sah aus wie ein Geschöpf aus einem Todeslager. Ausgehungert, erschöpft, krank vor Angst. Er beugte sich vor, gab ihm einen Kuss, stand auf, ging zum Rand des Waldes und schritt dann einen großen Kreis ab, um festzustellen, ob sie sicher waren.
     
     
     
    Im Süden, auf der anderen Seite der Wiesen, konnte er den Umriss eines Hauses und einer

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