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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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verloren. Vielleicht hätte er sie unter Verwendung der 45er Patronen neu laden können. Die Zündhütchen würden wahrscheinlich passen, wenn er sie herausbekäme, ohne sie kaputt zu machen. Die Kugeln mit dem Teppichmesser auf die entsprechende Größe zurecht schaben. Er stand auf und inspizierte ein letztes Mal die Vorräte. Dann drehte er die Lampe herunter, bis die Flamme spuckend erlosch, gab dem Jungen einen Kuss, kroch unter die sauberen Decken des anderen Betts, betrachtete noch einmal dieses winzige, im orangefarbenen Licht des Ofens zitternde Paradies und schlief endlich ein.
     
     
    Die Stadt war schon vor Jahren verlassen worden, aber sie waren trotzdem auf der Hut, während sie, der Junge an seiner Hand, durch die mit Abfall übersäten Straßen gingen. Sie kamen an einem Müllcontainer vorbei, in dem irgendwann einmal jemand versucht hatte, Leichen zu verbrennen. Ohne die Formen der Schädel wären das verkohlte Fleisch und die Knochen unter der feuchten Asche womöglich nicht weiter aufgefallen. Kein Geruch mehr. Am Ende der Straße lag ein Supermarkt, und in einem der Gänge, in denen sich leere Kartons stapelten, standen drei ineinanderverkeilte Einkaufs-wagen. Er musterte sie, zog einen davon heraus, ging in die Hocke, drehte die Räder, stand dann auf und schob ihn den Gang hinauf und wieder zurück.
    Wir könnten zwei nehmen, sagte der Junge.
    Nein.
    Ich könnte einen schieben.
    Du bist der Kundschafter. Dich brauche ich als Ausguck.
    Was machen wir mit den ganzen Sachen?
    Wir nehmen einfach mit, was wir können.
    Glaubst du, es kommt jemand?
    Ja. Irgendwann schon.
    Du hast gesagt, es kommt niemand.
    Ich habe nicht gemeint, nie.
    Ich wünschte, wir könnten hierbleiben.
    Ich weiß.
    Wir könnten doch aufpassen.
    Wir passen auf.
    Und wenn ein paar Gute kämen?
    Also, ich glaube nicht, dass wir auf der Straße unbedingt irgendwelche Guten treffen.
    Wir sind doch auch auf der Straße.
    Ich weiß.
    Wenn man die ganze Zeit aufpasst, heißt das dann, dass man die ganze Zeit Angst hat?
    Tja. Man muss wohl überhaupt erst genügend Angst haben, um aufzupassen. Um vorsichtig zu sein. Wachsam.
    Aber die übrige Zeit hat man keine Angst?
    Die übrige Zeit?
    Ja.
    Ich weiß nicht. Vielleicht sollte man immer aufpassen. Falls es Ärger gibt, wenn man am wenigsten damit rechnet, sollte man vielleicht immer damit rechnen.
    Rechnest du immer damit? Papa?
    Ja. Aber manchmal vergesse ich auch aufzupassen.
      
    Er setzte den Jungen unter der Laterne auf die Truhe und machte sich mit einem Plastikkamm und einer Schere daran, ihm die Haare zu schneiden. Er versuchte es gut zu machen, und es dauerte einige Zeit. Als er fertig war, zog er dem Jungen das Handtuch von den Schultern, nahm damit das goldene Haar vom Boden auf, wischte Gesicht und Schultern des Jungen mit einem feuchten Tuch ab und hielt ihm einen Spiegel vor.
    Das hast du gut gemacht, Papa.
    Gut.
    Ich sehe ganz mager aus.
    Du bist auch ganz mager.
    Er schnitt sich selbst die Haare, aber das Ergebnis war weniger gelungen. Er stutzte sich mit der Schere den Bart, während ein Topf Wasser heiß wurde, und rasierte sich dann mit einem Einmalrasierer. Der Junge sah ihm zu. Als er fertig war, betrachtete er sich im Spiegel. Er schien kein Kinn zu haben. Er wandte sich dem Jungen zu. Wie sehe ich aus? Der Junge legte den Kopf schräg. Ich weiß nicht, sagte er. Wird dir jetzt kalt?
     
     
    Bei Kerzenlicht aßen sie ein üppiges Mahl. Schinken, grüne Bohnen und Kartoffelbrei mit Brötchen und Bratfett. Er hatte vier Literflaschen Whiskey gefunden – sie steckten noch in den Papiertüten, in denen sie gekauft worden waren – und trank ein wenig davon, mit Wasser vermischt. Ihm wurde schon schwindelig, bevor er ausgetrunken hatte, und er ließ ihn stehen. Zum Nachtisch aßen sie Pfirsiche mit Sahne auf süßen Brötchen und tranken Kaffee. Die Pappteller und das Plastikbesteck warf er in einen Müllbeutel. Dann spielten sie Dame, und danach brachte er den Jungen zu Bett.
     
     
    In der Nacht wurde er vom gedämpften Prasseln von Regen auf der Matratze über der Luke geweckt. Er dachte, dass es wohl ziemlich kräftig regnen musste, wenn er es hören konnte. Er stand auf, ging mit der Taschenlampe die Treppe hinauf, hob die Luke an und ließ den Lichtstrahl durch den Garten wandern. Der stand bereits unter Wasser, und es regnete in Strömen. Er schloss die Luke. Wasser war eingesickert und tropfte die Treppe hinunter, doch der Bunker selbst machte einen

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