Die Straße
es den Jungen aufheitern würde. Sie aßen den letzten Rest ihrer Vorräte, dann studierte er die Karte. Er maß die Straße mit einem Stück Schnur, betrachtete sie und maß nach. Immer noch eine lange Strecke bis zur Küste. Er wusste nicht, was sie dort vorfinden würden. Er schob die Kartenteile zusammen und steckte sie wieder in den Plastikbeutel, dann saß er da und starrte in die Glut.
Am folgenden Tag überquerten sie auf einer schmalen Eisenbrücke den Fluss und gelangten in ein altes Fabrikstädtchen. Sie durchsuchten die Holzhäuser, fanden aber nichts. Auf einer Veranda saß ein Mann im Overall, seit Jahren tot. Er wirkte wie eine Strohpuppe, zur Ankündigung irgendeines Feiertags hierhergesetzt. Sie gingen an der langen dunklen Wand der Fabrik entlang, deren Fenster zugemauert waren. Vor ihnen stob der feine schwarze Ruß die Straße hinunter.
Am Straßenrand verstreut die unterschiedlichsten Dinge. Elektrische Geräte, Möbelstücke. Werkzeuge. Vor langer Zeit von Pilgern auf dem Weg in ihrem je verschiedenen, kollektiven Tod zurückgelassen. Noch vor einem Jahr hätte der Junge zuweilen etwas aufgehoben und es eine Zeit lang bei sich getragen, doch inzwischen tat er das nicht mehr. Sie setzten sich hin, ruhten aus, tranken den letzten Rest ihres sauberen Wassers und ließen den Plastikkanister auf der Straße stehen. Der Junge sagte: Wenn wir das kleine Kind gefunden hätten, hätte es mit uns kommen können.
Ja.
Wo haben sie es gefunden?
Der Mann gab keine Antwort.
Könnte es irgendwo noch eins geben?
Ich weiß nicht. Möglich ist es.
Was ich über diese Leute gesagt habe, tut mir leid.
Welche Leute?
Die Leute, die verbrannt sind. Die auf der Straße getroffen worden und verbrannt sind.
Ich wusste gar nicht, dass du etwas Schlechtes über sie gesagt hast.
Es war nichts Schlechtes. Können wir jetzt weitergehen?
Okay. Möchtest du im Wagen fahren?
Es geht schon.
Warum fährst du nicht ein Weilchen?
Ich habe keine Lust. Es geht schon.
Im Flachland träges Wasser. Die sumpfigen Stellen am Straßenrand reglos und grau. Die Flüsse der Küstenebene in bleierner Schlangenlinie auf dem verödeten Farmland. Sie gingen weiter. Vor ihnen, wo die Straße abfiel, befand sich ein Schilfdickicht. Ich glaube, da ist eine Brücke, sagte er. Wahrscheinlich ein Bach.
Können wir das Wasser trinken?
Uns bleibt gar nichts anderes übrig.
Es macht uns doch nicht krank?
Das glaube ich nicht. Aber der Bach könnte auch trocken sein.
Kann ich vorausgehen?
Ja, natürlich.
Der Junge lief los. Er hatte ihn lange nicht mehr rennen sehen. Mit abgespreizten Ellbogen flappte er in seinen zu großen Tennisschuhen dahin. Dann blieb er, den Blick nach vorn gerichtet, stehen und kaute auf der Lippe.
Das Wasser war kaum mehr als ein Rinnsal. Er konnte sehen, dass es sich leicht bewegte, wo es in eine unter der Straße hindurch verlaufende Betonröhre floss, und er spuckte hin-ein, um sich zu vergewissern, dass es sich tatsächlich um fließendes Wasser handelte. Er holte ein Stück Tuch und ein Plastikgefäß aus dem Wagen, spannte das Tuch über die Öffnung des Gefäßes, tauchte es ein und sah zu, wie es sich füllte. Er hob das triefende Gefäß hoch und hielt es ins Licht. Das Wasser sah gar nicht schlecht aus. Er nahm das Tuch weg und reichte dem Jungen das Gefäß. Na los, sagte er.
Der Junge trank und reichte das Gefäß zurück.
Trink noch etwas.
Erst du, Papa.
Okay.
Sie saßen da, filterten die Asche aus dem Wasser und tranken, bis sie nichts mehr aufnehmen konnten. Der Junge legte sich rücklings ins Gras.
Wir müssen weiter.
Ich bin richtig müde.
Ich weiß.
Er saß da und betrachtete ihn. Sie hatten seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Noch zwei Tage, und sie würden körperlich abbauen. Durch das Röhricht kletterte er die Uferböschung hinauf, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Dunkel, schwarz und spurlos zog sie sich durch das offene Land. Der Wind hatte Asche und Staub vom Belag geweht. Früher einmal fruchtbarer Boden. Nirgendwo ein Zeichen von Leben. Es war keine Gegend, die er kannte. Die Namen der Städte oder Flüsse. Komm, sagte er. Wir müssen weiter.
Sie schliefen immer mehr. Mehr als einmal erwachten sie auf der Straße liegend, wie Verkehrsopfer. Der Schlaf des Todes. Er setzte sich auf und griff nach dem Revolver. Im bleiernen Abend stand er da, die Ellbogen auf den Wagengriff gestützt, und schaute über die Felder hinweg auf ein knapp zwei Kilometer
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