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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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einen Felsbrocken, stand auf und schlurfte, in seine Decken gehüllt, durch das Laub los. Der Junge bat ihn flüsternd, nicht zu gehen. Nur ein kleines Stück, sagte er. Nicht weit. Ich höre dich, wenn du rufst. Falls der Wind die Lampe ausblies, würde er nicht zurückfinden. Oben auf dem Hügel setzte er sich ins Laub und blickte in die Schwärze. Nichts zu sehen. Kein Wind. Früher hatte er, wenn er so losmarschiert war und auf das Land hinausgeblickt hatte, das, wo der verlorene Mond die verätzte Einöde nachzeichnete, in gerade noch erahnbarer Gestalt vor ihm lag, manchmal ein Licht gesehen. Trübe und formlos in der Düsternis. Am anderen Ufer eines Flusses oder tief in den geschwärzten Quadranten einer verbrannten Stadt. Am Morgen war er dann manchmal mit dem Fernglas zurückgekehrt und hatte die Landschaft nach Anzeichen von Rauch abgesucht, aber nie welche gesehen.
     
     
    Er stand am Rand eines Winterfeldes unter rauen Männern. So alt wie der Junge jetzt. Ein bisschen älter. Er sah zu, wie sie mit Spitz- und Breithacken den felsigen Hangboden aufgruben und einen großen, vielleicht hundert Tiere zählenden Klumpen Schlangen zutage förderten. Die sich, gemeinsame Wärme suchend, dort zusammengefunden hatten. Die glanzlosen Schläuche ihrer Leiber begannen sich im kalten, harten Licht träge zu bewegen. Wie die dem Tag ausgesetzten Eingeweide eines großen Tiers. Die Männer überschütteten sie mit Benzin und verbrannten sie bei lebendigem Leibe, denn sie wussten kein Mittel gegen das Böse, nur gegen sein Abbild, wie sie es wahrnahmen. Die brennenden Schlangen wanden sich schrecklich, und einige krochen brennend über den Boden der Höhle und erleuchteten deren dunklere Nischen. Da sie stumm waren, hörte man keine Schmerzensschreie, und ebenso stumm sahen die Männer zu, wie sie brannten, sich krümmten und schwärzten, und stumm liefen sie, jeder mit seinen eigenen Gedanken, in der Winterdämmerung auseinander, um zum Abendessen nach Hause zu gehen.
     
    Eines Nachts wachte der Junge aus einem Traum auf und wollte ihm nicht sagen, worum es darin gegangen war.
    Du musst es mir nicht sagen, sagte der Mann. Das ist schon in Ordnung.
    Ich habe Angst.
    Jetzt ist alles wieder gut.
    Nein, ist es nicht.
    Es war bloß ein Traum.
    Ich habe richtig Angst.
    Ich weiß.
    Der Junge wandte sich ab. Der Mann nahm ihn in die Arme. Hör mir zu, sagte er.
    Was denn?
    Wenn deine Träume von einer Welt handeln, die es nie gegeben hat oder nie geben wird, und du wieder glücklich bist, dann hast du aufgegeben. Verstehst du? Und du darfst nicht aufgeben. Das lasse ich nicht zu.
     
     
    Als sie wieder aufbrachen, war er sehr schwach und ungeachtet seiner Reden so mutlos wie seit Jahren nicht mehr. Vom Durchfall verschmutzt, auf die Griffstange des Wagens gestützt. Mit seinen tief eingesunkenen Augen betrachtete er den Jungen. Zwischen ihnen herrschte eine neue Distanz. Er konnte sie spüren. Zwei Tage später stießen sie auf einen von Feuerstürmen verheerten Landstrich, Kilometer auf Kilometer verbrannten Geländes. Auf der Straße eine mehrere Zentimeter dicke Aschenkruste, mit dem Wagen schwer zu begehen. Der Asphalt darunter hatte sich in der Hitze ge- wellt und dann wieder gesetzt. Er stützte sich auf den Griff und blickte die lange Gerade ihres Weges entlang. Die dün-nen Bäume umgestürzt. Die Gewässer grauer Schlamm. Ein geschwärztes, skelettiertes Land.
     
    In dieser Wildnis stießen sie hinter einer Kreuzung immer wieder auf die schon vor Jahren auf der Straße zurückgelassenen Besitztümer von Leuten, die hier unterwegs gewesen waren. Kartons und Tüten. Alles geschmolzen und schwarz. Alte Plastikkoffer, von der Hitze verformt. Hier und da Abdrücke von Dingen, die Aasfresser aus dem Teer gerissen hatten. Anderhalb Kilometer weiter stießen sie dann auf die Toten. Halb in den Asphalt eingesunkene Gestalten, die Arme um sich geschlagen, der Mund zu einem Schrei aufgerissen. Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. Nimm meine Hand, sagte er. Ich finde nicht, dass du das sehen solltest.
    Was man in seinen Kopf hineinlässt, bleibt für immer dort?
    Ja.
    Es ist schon okay, Papa.
    Wirklich?
    Sie sind schon dort.
    Ich möchte nicht, dass du hinsiehst.
    Sie werden trotzdem dort sein.
    Er blieb stehen und stützte sich auf den Wagen. Sein Blick ging die Straße entlang und dann zu dem Jungen. So merkwürdig unberührt.
    Warum gehen wir nicht einfach weiter, sagte der Junge.
    Ja. Okay.
    Sie haben versucht

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