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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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zuletzt noch einmal zurück, sie lachten, sie winkten der Gesellschaft neben den Plätzen zu, die den Gruß erwiderte, und nun waren Oskar und Mary hinter eine Baumgruppe und einen Pavillon eingebogen. Da gingen sie; nein, sie blieben bald stehen; sie umarmten einander, hier war es einsam, sie drängten aufeinander zu, sie küßten einander heftig, als wollten sie sich gegenseitig betäuben. Es ist hierher gehörig und muß daher gesagt werden, daß Mary, ihrer eigenen Angabe nach, während dieser Szene an zwei Vorstellungen festhielt: einmal bedauerte sie es, nur jene weiße Flausch-Jacke anzuhaben, und nicht irgendeinen Umhang oder Überwurf von starker Farbe, das hätte ihr stilistisch besser geschienen, gleichsam tiefer hineinpassend in das Bild; und zum zweiten dachte sie zurück bis zum Jahre 1910 und an die damals neu eröffnete ›Strudlhofstiege‹ am Wiener Alsergrund, wo ihr vor kurzem angetrauter Gatte sie einmal ganz unvermittelt geküßt hatte, an einem warmen Herbstabend, da es nach den Blättern roch, die auf den steinernen Stufen lagen.

    Der Doktor Negria war inzwischen in eine zweischneidige Verbarrikadierung geraten, wie sich ein k. u. k. österreichischer Generalstabsoffizier einmal in Bezug auf eine ähnliche Situation ausgedrückt hat. Denn in dem großen Café am NußdorferPlatz, wo er Mary erwarten sollte, hatte sich eine Explosion ereignet, eine ganz lautlose, eine ganz subjektive für Negria nur – nun, man errät oder man errät nicht: es saß Eine dort; es saß Eine dort, die war für Negria wie das offenstehende Einfahrtstor zur Ruh' aller seiner Wünsche.
    Und nun fürchtete er, daß jeden Augenblick dieses Tor zugeschlagen werden könnte, sei's daß der Brennpunkt seiner unverzüglich erwachenden Durchbruchs-Instinkte nicht länger würde allein bleiben – auch das Auftreten einer Freundin etwa hätte ja die Aktion und Intervention durchkreuzt, und vielleicht, oder sehr wahrscheinlich, wurde eine Freundin hier erwartet, in diesem von Damen und Familien frequentierten Lokal – sei es, daß Marys Eintreffen und Auftreten pünktlich erfolgte. Noch blieb eine Viertelstunde.
    Aber nichts in der Welt konnte einen Negria daran verhindern zur Tat zu schreiten. Ja, es mußte unverzüglich gehandelt werden und so ward denn gehandelt.
    Ein wohlgelaunter Eros, den man sich rosabackig und barock-rundlich vorstellen möchte (also schon fast wie einen Gambrinus und vielleicht statt mit dem klassischen Bogen und Köcher mit einer Kanone ausgerüstet, mit jener nämlich, mit der man auf Spatzen schießt), ein solcher himmlischer Lausbub schien hier die Regie zu führen und zwar von allem Anfang an auf ihren Endeffekt zusteuernd: die Tische standen einander nahe und günstig und durch eine Ecke gegen das ausgedehnte Lokal abgedeckt; vor allem aber: es hatte da so gleich einen fluidischen Kontakt gegeben, jenen, auf den es allein ankommt. Sie blätterte in Modejournalen. Negria blätterte auch. Als Mary ihre Zeit bereits um volle zehn Minuten überschritten hatte, waren die lautlosen Präludien so weit gediehen, daß Negria – welcher sich dabei zusehen ließ – einige Zeilen auf seine Visitekarte werfen, diese in eine Zeitung schieben und das Blatt gegen ein solches austauschen konnte, das dort auf dem Tische seiner neuen Kontrahentin lag, wozu er auf seine knappe Verbeugung hin die ebenso formelle Erlaubnis erhielt (in Wien belästigen alle Gäste eines Cafés einander unausgesetzt wegen der Zeitungen und Zeitschriften). Er sah jetzt zu, wie sie nach einigen Augenblicken langsam die neue Zeitung an sich zog, die Karte überflog; nun mußte der Mechanismus einschnappen. Er tat's. Sie sah auf und in des Doktor Negria wartenden und ergebenen Blick hinein und senkte kaum merklich und bejahend den Kopf.
    Er war ja nicht ungeschickt, unser Kinder-Doktor, und er war konservativ in den Methoden, die er also in hohem Grade als eingespieltes Verfahren besaß und beherrschte. Auf der Karte hatte zum Beispiel gestanden: »Dr. med. Boris Nicolaus Negria, Assistenz-Arzt der II. Kinder-Klinik … verehrte Gnädige, bitte, bitte, verzeihen Sie meine Frechheit, das vor allem, sie ist keineswegs als solche gemeint … man stürzt im Leben an einander vorbei, man wird sich nie wiedersehen: hier will ich das ein einziges Mal zu verhindern wagen. Wenn Sie augenblicklich ebensowenig zu tun haben sollten wie ich, dann bitte ich Sie inständigst, an diesem schönen Spätsommertage mir einen kurzen Spaziergang mit Ihnen

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