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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Nachmittagsschlaf im Büro ausgeruht und sachlich an seinen Sport gegangen war, wo sie selbst doch … solche Schwierigkeiten gehabt hatte (und nun dachte sie an die um ihren Hals baumelnde Teekanne). Noch dazu gegen diesen Semski spielte er, wo für ihn nur zu verlieren war. Negria stellte ja als Spieler eine ganz andere Klasse dar.
Frau Mary war indessen an die Plätze herangekommen. Semski – ein kleiner Mensch mit für seine Statur etwas zu großem Kopfe – zog stark schwitzend einen Ball nach dem anderen hart über das Netz, aber so gut sein Schlag war, auch im Backhand, verstand er es doch nicht im selben Maße zu placieren; eigentlich hätte er das als Diplomat besser können sollen. Oskar hielt daher im allgemeinen stand – das viele Trai ning dieses Sommers hatte zudem sein Können gesteigert, auch in Millstatt war unaufhörlich gespielt worden – und Herr von Semski konnte nur nach und nach und gewissermaßen abbröckelnd eine Niederlage des Gegners erzwingen (das war ihm übrigens früher einmal auch bei Negria noch gelungen). Oskar winkte in einer entstehenden Pause seiner Frau mit erhobenem linken Arm und rief »Müze, Müze« (so nannte er sie). Mary ging in die Garderobe, um ihr Racket aus der Presse zu nehmen.
Der Legationsrat Semski war ein Pole, der das Wienerische der guten Gesellschaft von ehemals sprach, Sohn eines polnischen Adligen, der Vater hatte dem österreichischen Diplomaten-Korps der kaiserlichen Zeit angehört, und so war denn der Sohn, Stephan hieß er, gleichfalls in seiner Jugend dort eingetreten, nämlich zunächst am Ballhausplatz in's Ministerium des Äußeren, nach dem üblichen Jus-Studium, ohne Doktorat, versteht sich, und dem einjährigen Kursus mit ›Völkerrecht‹ und anderen Dingen, an die man heute lächelnd denkt. Eigentlich war also dieser Semski ein Wiener, dessen Polentum sich in's Unanschauliche verloren hatte, nur die Sprache blieb ihm noch gebrauchsfähig, durch Kinderzeiten auf galizischen Schlössern bei Verwandten und durch spätere Besuche dort. Immerhin konnte er nach dem Zusammenbruche des Kaiserstaates im Jahre 1918, angesichts des winzig gewordenen Österreich, seine Carrière fortsetzen, in der wiederhergestellten polnischen Eigenstaatlichkeit, was Herrn Stephan von Semski jetzt bewog, für Polen zu optieren. Er blieb durch einige Jahre zu Warschau im Ministerium und verstand es schließlich in der Wiener Alleegasse zu landen, die jetzt schon Argentinierstraße hieß, im Gebäude der polnischen Botschaft mit ihrer breiten Einfahrt, dem repräsentablen Stiegenhause in dunklem Holz und dem seitlich nicht sehr ausgedehnten aber tief nach rückwärts hineinlaufenden Garten.
Man wird fragen, was dieser Herr in einem recht bürgerlichen Club zu suchen hatte, und diese Frage ist für den Erzähler peinlich, da sie ihn zu einer dummen Antwort zwingt (›Cherchez la femme‹). Machen wir's kurz: unser Semski hatte hier einen Knochen zu benagen; darum war er in den ›Tennis club Augarten‹ eingetreten.
Semski war Junggeselle. Die letzten Gründe dafür (ihm wohl nicht mehr oder kaum mehr bewußt) lagen in der Zeit vor dem ersten Weltkriege, also vor neunzehnhundertvierzehn. Es hatte einen Skandal gegeben im Zusammenhange mit einem Fräulein Ingrid Schmeller, die Herr von Semski dann – wollt' er's gleich gar sehr! – nicht hat heiraten können, weil er vom alten Schmeller hinausgeworfen worden ist. Einen Skandal, sag' ich, denn in der Geschichte kommt ein Badezimmer vor, nämlich das im Schmeller'schen Hause. Während einer größeren Abendgesellschaft, es war ein Gartenfest im Spätsommer, ist dieser Raum sehr zur Unzeit (weil mit Absicht) von einem Fräulein Pastré betreten worden, obwohl Asta von Stangeler – die jüngste, bräunliche Schwester unseres famosen Herrn René – sich auf Posten gestellt hatte; jedoch kannte sie den Grundriß des Hauses Schmeller nicht hinreichend genau, auch war ja die Einteilung der Zimmer in diesem über den Gesellschaftsräumen liegenden Stockwerk eine ganz andere, und die kleine Pastré ist überraschend und sozusagen überrennend an die Türe gelangt, welche zu versperren man doch nicht gewagt hatte.
Weder die frivolen (ungebührlich vereinfachenden) noch die sentimentalen (ungebührlich aufbauschenden) Maßstäbe und Erklärungen gelten, sondern das Frivole und das Sentimentale gilt und obendrein gleichzeitig. Es war kein Abenteuer eines Cavaliers gewesen und doch war es objektiv ein solches und sogar ein mesquines.

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