Die Strudlhofstiege
gewesen, nicht, wie Mary K. sich fälschlich erinnerte, 1908, als der Leutnant Melzer Ischl verlassen und sie zum letzten Mal gesehen hatte; also kaum ein Vierteljahr vor ihrer Verheiratung. Denn 1908 standen die Angelegenheiten der Monarchie im Südosten so sehr kritisch – schon wurden damals zu Wien Marsch-Bataillone des k. u. k. Infanterie-Regiments Nr. 4, Hoch- und Deutschmeister, einwaggoniert –, daß kein bei einer Kompanie des zweiundneunzigsten Regiments in der fortifizierten Kaserne zu Trnowo in Bosnien stationierter Offizier Urlaub nach Wien oder Ischl erhalten hätte. Aber solche Sachen sind den Frauen im Grunde vollends gleichgültig. Sie werden die diversen Gefangenschaften und Gefängnisse, in welche die Männer einander einsperren und darin sie sich einsperren lassen, niemals profund ernst nehmen und auch derlei Begründungen für irgend ein Verhalten, etwa ein Zuspätkommen oder gar Ausbleiben, in der Tiefe des Herzens keineswegs wirklich akzeptieren. Zum ersten Mal im Leben geschah es dem Leutnant Melzer, daß er, von irgendeiner Sache abscheidend, diese doch mit sich trug wie einen Stein: dessen nicht geringe Last spürte er nun mit Staunen, ja mit Schrecken, als er, nach der Fahrt am Traunsee entlang durch den schönen Sommermorgen, zu Attnang-Puchheim über den Perron schritt, den Schnellzug nach Wien erwartend. Es war für ihn ein Phänomen, wie eine bisher ganz unbekannte Krankheit, die ihn nun plötzlich anfiel und zwar mit geradezu brutaler Gewalt. Die Lage in Ischl, von Melzer bis zur äußersten Möglichkeit, nämlich bis zum Ende seiner Urlaubszeit, hingezogen und hingeschleppt, war dadurch entschieden worden, daß er einen Heiratsantrag schließlich doch unterlassen und eine Aussprache mit Marys Vater, dem alten Allern, nicht herbeigeführt hatte. Wahrscheinlich ist der alte Allern froh drum gewesen; denn daß Melzer einschlagenden Falls den Dienst hätte quittieren müssen, lag ja auf der Hand, und was wäre daraus dem Schwiegervater in spe für eine Notwendigkeit erwachsen? Den Burschen, der sonst nichts gelernt hatte und auch nicht gerade ein Kirchenlicht zu sein schien, irgendwo unterzubringen. Der alte Allern hat Melzer wahrscheinlich mit Erleichterung scheiden sehen (und übrigens noch vor dessen Abreise mit ihm im Caféhaus gefrühstückt).
Unseres Leutnants Zögern in Ischl aber war ein von vornherein hoffnungsloses gewesen, ein Lagern und Beobachten gegenüber dem Unmöglichen. Die Gefängnismauer lief sozusagen mitten durch ihn hindurch und erlaubte ihm nicht, ein Terrain seiner eigenen Seele zu betreten, das doch handgreiflich vor ihm lag. In diese Mauer eine Bresche zu schlagen, wäre ihm als Selbstvernichtung schlechthin erschienen; und wir wagen nicht – in Ansehung seiner damaligen Person und der Vorstellungen, von denen sie bewohnt wurde – ein genaues Gegenteil zu behaupten, nämlich: Selbstbefreiung. Biologisch lag der Fall für einen Leutnant Melzer bedenklich. Das mocht' er spüren und von daher also der Druck auf seiner Seele. Nein, Erholung hatte dieser Urlaub nicht gebracht.
Er dacht' es eben, als mit Brausen der Schnellzug nach Wien einlief. Nun gab es kein Zurück. So wurde man geschoben. Von gewaltigen Kräften. Zwischendurch fiel es Melzer ein, daß er nun seit Wochen keine Uniform mehr getragen hatte. Diesen Sportanzug da und andere gute Sachen. In Wien wird er in's Hotel ›Belvedere‹ bei der Südbahn fahren, sich umziehen und den Rest seines Gepäckes mitnehmen. Abends geht der Zug nach Agram; man kann noch beim ›Schneider‹ essen (so hieß der Inhaber des damals in Wien sehr renommierten Südbahn-Restaurants). Melzer fand ein leeres Halbcoupé zweiter Klasse. Dem Kondukteur einen Gulden in die Hand drückend, sagte er: »Schauen S', daß ich allein bleib.« Noch war damals vielfache Erleichterung des Lebens möglich durch eine gelinde Korruption in geziemenden Grenzen, human, nicht ohne Würde, möchte man fast sagen. Aber diesmal war der Gulden unnötig, der Zug halb leer.
In einem besseren Roman wären jetzt die Gedanken des einsamen Reisenden während seiner Fahrt nach Wien zu erzählen und notfalls aus der betreffenden Figur herauszubeuteln und hervorzuhaspeln. Bei Melzer ist das wirklich unmöglich; von Gedanken keine Spur; weder jetzt, noch später, nicht einmal als Major. Zum ersten Mal hat er sich unseres Wissens was gedacht bei einem schon sehr vorgeschrittenen und ernsten Anlasse seines Lebens, den wir noch kennen lernen werden: und dabei
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