Die Strudlhofstiege
Spende für den Flußgott oder gar den Neptun, denn schließlich ergießt sich die Donau ja in's Schwarze Meer.
In die sonnig ziehende Breite des Stroms schnitten schon die Schatten der Berge. Das Boot gewann überraschend Fahrt, wurde mit kräftigen Ruderschlägen hinausgetrieben und war bald in einen schnell entgleitenden Farbfleck verwandelt. Negria hielt sich oberhalb von Nußdorf nach links, er trieb vom ›Donau-Kanal‹ ab und blieb im Hauptstrom: also weitab vom Standplatz jener Taxis in der Nähe von Mary K.s Wohnung ging die Fahrt, weitab auch von den Miserowsky'schen Zwillingen in der Porzellangasse. E. P.s Zimmer lag in möbelhaftem Schweigen, in der Vielwissenheit der stummen Dinge, ungehört blieb der aiolische Sang des leitungstragenden Kabels, wenn die Straßenbahn unten vorübersauste. Die kleinen netten Narreteien in diesem Raume – Aufschriften überall: am Bücherkasten stand ›Bücherkasten‹, auf einem Taferl, am Kleiderkasten ebenso (um Verwechslungen auszuschließen), und an der Wand war eine Notbremse befestigt, die der kleine E. P. im Kriege einmal aus einem zerstörten Eisenbahnwaggon mitgenommen hatte, darunter das Aviso: ›bei Gefahr Handgriff herabziehen – Mißbrauch wird bestraft‹ – alle diese netten kleinen Narreteien, wozu auch zahlreiche Puppen gehörten, nahmen an jenem möbelhaften Schweigen und an jener stummen Vielwissenheit teil und zeigten da ein ganz anderes Gesicht als das mit ihnen eigentlich gemeinte. Sie verloren ihre scherzhaften Namen. Sie standen hier im Licht des vorgerückten Nachmittages und waren alle wesentlich ernst, sie zeigten wohl Farbe und Kontur, aber die Pointe war von ihnen abgefallen, die man ihnen gegeben hatte, und die Spitze fehlte, die ihnen aufgesetzt worden war.
Vor dem Boot schlugen sich die donauseitigen Vorstädte Wiens breit auf wie ein Foliant, den man öffnet. Links noch der grausilberne Schaum von den Baumkronen der Auwälder, nach den leeren Wiesenflächen gegenüber Nußdorf, aber auch hier schon Straßen, Häuser und Fabriken gegen den Strom im Vortreten ebenso wie am anderen Ufer drüben, wo die Stadt liegt. Ein Schleppzug mit eintönig mahlenden Maschinen ging langsam stromauf und rechts drüben, wo der Prater endet, bei Kaisermühlen, lagen viele große schwarze Schiffe längs des Ufers.
Das Boot glitt schnell und ruhig. Negria spielte nur ein wenig mit den Rudern. Seine Partnerin saß rückwärts auf der Steuerbank, sie lehnte tief in dem Sitz, der wie ein kleiner Fauteuil war, ohne die Zugschnüre zu betätigen, welche sie gar nicht zur Hand genommen hatte. Sie fühlte sich sicher. Das Boot, der Mann, seine Vertrautheit mit dem Strome, das alles war unmittelbar überzeugend.
Unterhalb der Kais, noch lange vor dem Winterhafen und dem sogenannten ›Praterspitz‹, drückte Negria sein Fahrzeug ohne Steuerhilfe immer mehr nach rechts und schließlich nahe gegen das Ufer, wo sich ein bequemer Steg bot: man rief ihm zu (offenbar schien er hier bekannt, denn er wurde mit ›Herr Doktor‹ angeredet) und half seiner Dame an's Land. Es hat in jener Gegend immer eine besondere Art von kleinen Wirtshäusern gegeben, die von geschmuggeltem griechischen Wein lebten, vom Geschick eines ungarischen Kochs, von der Vorzüglichkeit seiner Fischgerichte und dem lebhaften Zuspruch serbischer, rumänischer, ungarischer und österreichischer Matrosen und Steuerleute.
Da saß sie nun, die kleine Pastré, jetzt Frau Schlinger, und schon wieder geschieden. Man kann von ihr ruhig sagen, daß sie nicht gut getan hat. Sie gehörte überdies zu jenen sehr zahlreichen Wiener Frauen, in deren Leben der Rittmeister von Eulenfeld hineinspielte und das hat noch keiner wohl bekommen; weshalb denn auch Kajetan seinen alten Saufbruder oft den ›Zerrüttmeister‹ zu nennen pflegte.
Da saß sie nun und sie hatte ernstlich das Bedürfnis Negria ihr Herz auszuschütten, vielleicht kam das auch von ihrer augenblicklichen Beschwipstheit und dem Reiz des Neuen, das sie umgab. Sie hätte gerne alles erzählt, schlichthin alles: von damals angefangen, als sie ihren Semski nicht hatte bekommen können, vor nun wirklich schon vielen, vielen Jahren bis zum heutigen Vormittage, wo ihr Ingrid Schmeller, die sich jetzt als eine Frau von Budau schrieb, auf dem Graben bege gnet war, nah der Ecke zum Stephansplatz, bei der Buchhandlung; und wieder, wie stets seit jenen fernen Zeiten, waren die beiden Damen grußlos aneinander vorbeigeschritten.
Es war im Jahre 1910
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