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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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einem von Giganten geschriebenen Vers (wölbte nicht der Parkett-Boden sich geradezu auf unter ihm?!), den Schritt, den das Leben inzwischen weitergetan und mit welchem es inzwischen auch den damaligen Leutnant Melzer längst eingeholt und überholt hatte: und dieser wurde für René sogleich, in einleuchtendem Gegensatze zu damals, ein nächstes Beispiel, an welchem Verschwiegenheit zu üben war, mochte da welcher Vorwand immer dreinreden und ihm, Stangeler, einreden wollen, daß es erforderlich und geboten sei, dem Major oder Amtsrat von dem zu sagen, was sich da am Westbahnhof Absurdes gezeigt hatte, da es jenen vielleicht wirklich anging, ja aller Wahrscheinlichkeit nach? Aber die Flut des Schweigens und Verschweigens hatte den Major eingeholt und überspült, eine klare Flut, unter deren Oberfläche René jetzt Melzern treiben sah. Ganz mitleidslos sah er ihn da unten. Mit den weißen Porzellanhosen. Und viel deutlicher als sonst, leuchtend wie in Kristall, während die Flut weiterging bis an einen Horizont, hinter welchem man dann ›niemals mehr irgend jemand jemals etwas sagen würde‹. Womit auch allen nur erdenklichen Bauräten Haupt zugleich die einzig richtige Antwort bereits erteilt wäre! Und der René Stangeler beschloß mit einer Art von hier im Dunklen glühender Leidenschaft, während seine Augen wie kleine unaufhörlich aufblitzende Geschütze in dieses Dunkel feuerten, die weitergeschobene Aufgabe am neuen Ort und Exempel bewußter und also (wie er vermeinte) besser zu erfüllen wie damals, wo's nur so durchgerutscht war. Man mußte sich eben daran gewöhnen. Es mußte einen in schon gewohnter Weise bewohnen. Das Nicht-Erwähnen, das Nicht-Mitteilen einer Sache konnte ohne weiteres zur nun schon wieder unbewußten Gepflogenheit werden, eingefahren, eingealtet, nicht mehr anstrengend und wie am letzten Zipfel gehalten …
    Er schlief bis in den hohen Tag und fand sich um etwa halb fünf Uhr am Nachmittage in guter Verfassung bei Siebenschein's ein. Außer den Eltern und Grete war noch eine Schwester der Hausfrau anwesend, die mit ihr nicht die leiseste Spur einer Ähnlichkeit aufwies, eine Frau Clarisse Markbreiter, mit viel weiblicher Anmut, kleinen weißen Patschhänden, überaus reichem und schönem ebenholzschwarzem Haar, darin sich vereinzelte Silberfäden zogen, die aussahen, als seien sie wirklich von diesem Metalle. Das Bemerkenswerte aber an Tante Clarisse war ihre Gestalt, sonderlich, wenn sie neben der strichartig schmalen und schlanken Frau Doktor stand: der Umriß rückte dann sogleich an die Grenze wandelnder Karikatur. Frau Clarisse, deren schlanke Beine sich neben denen einer Mary K. oder Lea Fraunholzer hätten sehen lassen können, behielt solche Schlankheit im ganzen auch noch in den mittleren Stockwerken des Gebäudes (wieviel zu solcher poin tierter Architektur die Korsettmacherin beitrug, kann jetzt auf der Stelle nicht untersucht werden). Jedoch in der Bel-Etage oben kam ein monumentaler Stil dermaßen unvermittelt zum Durchbruche, daß man den Gesamt-Eindruck etwa als den einer umgekehrten Tropfenform bezeichnen könnte. Sie war munter, sogar sehr lustig und nicht dumm, gehörte indessen zu jenen Geistern (soweit davon hier die Rede sein kann), die alle ihre guten Eigenschaften und ihre freundliche Harmlosigkeit sogleich verlieren, wenn ihnen etwas entgegentritt, was sie nicht verstehen. Dies wirkt auf solche Personen anscheinend in hohem Grade beleidigend. Wahrscheinlich wohnt ihnen die Forderung inne, daß die Welt unbedingt plan verständlich zu sein habe und daß sie zu verurteilen wäre, wo sie irgend davon abwiche. Nun, Frau Clarisse sah den René Stangeler selten. Aber daß er dabei – sofern er sich nur irgendwie äußerte – bei ihr nicht gut weg kam, wird man verständlich finden. Sie hatte heute ihre Tochter mitgebracht, die allgemein als besonders hübsch, elegant und klug sozusagen ausgeschrieen wurde, sowie deren Gatten, der sich mit dieser Charge seiner Frau abgefunden hatte und auch mit der eigenen Rolle eines musterhaften Ehemannes, welche ihm gleichsam en bloc von der Schwiegermutter ein für allemal übertragen worden war und der er nun nachzukommen sich bemühte: ein soignierter und bescheidener Mensch von noch nicht dreißig, mit jener Kultur der Zurückhaltung, die man in Wien bei Bürgersleuten mit alten und gut eingeführten Geschäften immer wieder findet.
    Grete sprach über Paris und Frankreich überhaupt. Man saß im Speisezimmer, das

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