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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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eigentliche Sitz-Zimmer war noch verschlossen, dunkel, eingemottet. René, für den Personen wie Frau Clarisse Markbreiter etwas beruhigend Außenstehendes hatten, ein klarer Maßstab am äußersten Rande seines Horizonts, ein rein familiärer nämlich – mochte er selbst auch unter solchem Maße als Versorger und Versorgung Gretes in's Unmeßbare und Indiskutable versinken – René fühlte sich durch jene Erzählungen und den daran schließenden Gedankenaustausch (soweit davon die Rede sein kann) zwischen den jungen Leuten weit mehr in Unruhe versetzt als durch den permanenten und stummen Protest der Tante Clarisse gegen seine ganze Person. Dort aber war eine Nachbarschaft, mit der man die Gebräuche einer gebildeten und gehobeneren Umgangssprache allzu gemeinsam hatte; und es war zu fürchten, daß er auf solche Weise im Innern Gretes, die sich zwischen ihrer Cousine und deren Mann einerseits und René andererseits (soweit dieser an der Unterhaltung sich beteiligen konnte) glatt und auf gleicher Ebene hin und her bewegte, sozusagen mit Leuten in einen Topf geriete, mit welchen ein Ragout zu bilden Stangeler als hoffnungslosen Schwindel deutlich empfand: einen Schwindel seinerseits, einen bösen Betrug an harmlosen Menschen, die Standpunkte einnahmen und Meinungen äußerten, wie man eben sonst alles andere auch tut, Nägelputzen oder Photographieren, gewiß aber nicht als Ergebnisse eines Vorganges der Ermittlung und als jeweils letzte Ausprägung der eigenen Façon. Freilich, das junge Ehepaar war mehrmals in Paris gewesen, auf der Hochzeits-Reise nicht nur, sondern späterhin auch aus geschäftlichen Anlässen, und zuletzt in Südfrankreich. Dem René Stangeler aber fehlte ja die Materie, um bei einem solchen Diskurs – der, wie es denn Gepflogenheit ist, alle Augenblicke seinen Gegenstand weit und bis zur Sentenz überstieg – überhaupt mithalten zu können. Er geriet in die sehr bedenkliche Lage, Auslassungen über Dinge, die er gar nicht kannte, für Unsinn halten zu müssen. Hätte er das vermocht, was ein im eigentlichen Sinne erwachsener Mensch vermag, nämlich auf die bequeme und unübersteigliche Brüstung der Ironie und Toleranz gestützt, sich in eine solche Unterhaltung zu beugen, um gelegentlich einmal, mehr zum reinen Spaß als weil's zu bunt wird, das Licht aufzublenden, nur für die kurzen Sekunden eines lustigen und zutreffend formulierten Einwurfes: er hätte dann bei dieser Gelegenheit die Kenntnis der Sachen, von denen gesprochen wurde, weniger peinlich vermißt, weniger drückend die Enge empfunden, in welcher seine Jugend zu verbringen er sich immer wieder gezwungen sah und merkwürdigerweise mit dem tiefen Bewußtsein eigener Schuld an solchen Lebens-Umständen.
    Aber einmal dauerten die Gespräche und dieser ganze Zustand gar nicht lange. Und zweitens war Stangeler von einem so spürbaren physischen Wohlbefinden am heutigen Tage durchdrungen, daß jede auftretende Dissonanz gemindert wurde und gleichsam darin erstickte. Ein gereinigtes und geräumtes Gefühl seiner selbst füllte ihn aus, ihm war in seiner Haut wohl, wie in einem gut passenden neuen Anzug; und gerade diese Art des Empfindens verband ihn neuerlich dankbar und innig mit Grete. Beim Fenster, an welchem er saß, hinausblickend, sah er zwei- oder dreimal eines von den Autotaxis am Ende der Gasse, wo sich der geteilte Standplatz befand, ohne Geräusch quer über die Fahrbahn rollen. Dies allerdings – es geschah in ungefähr gleichen Zeitabständen – wirkte befremdlich, mahnend, wie das Ticken einer Uhr, wie das Fallen von Wassertropfen, wie ein feststehendes Maß, von dem sich abhob, was hier im Vordergrunde geschah, und ein ernsteres und bedrohlicheres noch als jenes von Frau Clarisse Mark breiter im monumentalen Busen getragene. Jetzt wieder empfand er lebhafter und quälend die Verengung seines Lebens von vorhin: auch angesichts dieses mit seiner Weite am Ende jeder Gasse saugenden zuinnerst schon herbstlichen Tages, hier in der Siebenschein'schen Wohnung. Da erklang das Telephon anhaltend im Vorzimmer. Grete ging rasch und leicht hinaus, an René vorbei mit ihrem Gang, der die Hüften bei jedem Schritt auch nach seitwärts hervorschob. Nun hörte man sie am Apparate des längeren sprechen und mehrmals laut lachen; danach aber rief sie zur Türe herein: »René!« Sie übergab ihm draußen den Hörer. »Es ist Eulenfeld«, flüsterte sie dabei, »für Mittwoch verabrede dich mit ihm, da bin ich den ganzen Nachmittag

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