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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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hat er's gründlich besorgt; er hat sein Pulver nicht vorzeitig verschossen in kleinen Beweglichkeiten und Geistreicheleien.
Zunächst wuzelte er eine Zigarette über der hübschen alten Silber-Tabatière, die noch von seinem seligen Vater stammte, der einer kaiserlichen Majestät durch fast zwei Jahrzehnte mit reiterlicher Sachkenntnis gedient hatte, denn er war Kavallerist gewesen. Sodann entfaltete Melzer die in Attnang-Puchheim gekaufte Zeitung. Und weil dort nichts drin stand, entnahm er seinem eleganten ledernen Reise-Necessaire – ein Buch. Er griff zu einem Buch.
Zweifellos eine überraschende Wendung. Sie war von Melzer in der letzten Zeit wiederholt vollzogen worden, allerdings nur in der Form des Griffes nach dem Buch – viel weiter zu kommen gelang ihm nie, bei diesem Buche nicht. Er blieb halt immer wieder hängen. Mary Allern hatte ihm den Band gegeben, schon vor längerer Zeit, kurz nach Beginn ihrer Bekanntschaft. Gleich am Anfang befand sich eine Stelle, über die Melzer neulich wieder gestolpert war: »… Jede meiner Umgebungen enthielt Gefahren, und was diesen Punkt betrifft, ist auch heute, im zwanzigsten Jahrhundert, überall Wald. Man muß zwischen zweien Arten der Gefahren unterscheiden: solche einmal, die in ständigem Flusse sind, die ›epischen‹ Gefahren, wenn man so sagen darf, die Mächte der Umgebung und Gewohnheit, der sich tief einbettenden Läßlichkeiten, welche täglich ihre Stunden stehlen und dies Diebsgut, dies erschlichene, bald wie eine Gebühr und einen Zoll einfordern. Und mit diesen Läßlichkeiten wieder in irgend einem Zusammenhange, der über die Weichen und Kreuzungen des schlechten Gewissens führt und über die von den fahrplanmäßig wiederkehrenden Zügen des Charakters noch belebten Stränge: die dramatischen Gefahren‹, jenes Gerank und Gewirr teilend, wie der hervortretende Gorilla im afrikanischen Urwald die Lianen (und was bedeutet da, auf fünf Schritt, dem Jäger das durch Wochen begleitende Gesumm der Moskiten, Geraschel der Reptile im Busch, er hört beides nicht, es ist beiseite geflogen, jetzt wo ihn dies rotunterlaufene Auge anblickt und aus der gewaltig atmenden haarigen Brust der markerschütternde Zorn grollt) …«
Diesmal las Melzer die Stelle ganz durch: er bezog sie ohne weiteres auf alles von ihm zu Ischl Erlebte, er stellte sie als Bild neben das Bild jener Erlebnisse und neben das drückende Gefühl in seiner Brust (den Stein, den er jetzt mit sich trug), und noch etwas fügte sich daran, als gehöre es eben dazu: die heranbrausende Lokomotive am Perron zu Attnang-Puchheim. Dann erst fiel ihm ein, daß es ja bei Zauner in Ischl zum Beispiel allerlei Erstaunliches gegeben hatte (außer Kaffee und Eiscrème), sogar Monstra, wenn man will, aber sicher keinen Gorilla und kein Geraschel von Reptilien im Busch. Wir sehen, daß Melzer an sein Vorstellungsleben und dessen willkürliche Arrangements bereits so etwas wie Kritik anlegte, können uns aber unmöglich entschließen, solches bereits als Denken zu bezeichnen. Genug: er wischte plötzlich alles innerlich wie mit dem Schwamm von der Tafel, mit einer Abwendung, die etwa hätte so viel bedeuten können wie der Ausruf: ›Blödsinn!‹ Aber das war nur die Folge davon, daß Melzer diejenige einfache Gedankenarbeit nicht zu vollbringen vermochte, auf welche es hier ankam: nämlich zu entdecken, daß sämtlichen eben jetzt vor seine Seele getretenen Vorstellungsbildern ein Gemeinsames durchaus innewohnte, welches sie allerdings auf sehr verschiedene Art darstellten, als Gorilla, als Ischler Erlebnis und als dessen schwerer Nachklang, und schließlich als heranbrausende Schnellzugslokomotive: das waren vor allem lauter Dinge oder Erscheinungen von ungleich größerer Kraft als er, der Leutnant Melzer selbst, und ihm um ein Vielfaches überlegen.
Er konnt' es nicht ganz abweisen und fühlt' es wieder mit Schrecken. Wie eine rote Wand von Purpur (oder war es rohes Fleisch?) stand's da plötzlich grausam und bedrohlich hinter allem Leben, hinter allem und jedem: und darauf lief's hinaus. Er sah durch mehrere Augenblicke diese Farbe: rot, wie Fleisch oder wie Blut, das überstark strömte, Lachen und Pfützen bildend. Da unserem Leutnant, war er gleich ein Krieger, jetzt durch den Bruchteil einer Sekunde graute, so griff er neuerlich nach seiner Tabaksdose. Und nun war's vorbei, er wußte mit diesen Vorstellungen nichts mehr anzufangen, ließ das Buch sinken und schlief bis Linz, wo ihm ein Paar

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